Page 123 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Klassizität des Urbanen           121

                                      Conrad Wiedemann

                                Die Klassizität des Urbanen


                        Ein Versuch über die Stadtkultur Berlins um 1800


                                    Innovation und Folgelast


               Vor fast zehn Jahren trug ich einem Berliner Akademiegremium die These vor, es
               habe in Deutschland um 1800 nicht ein kulturelles Zentrum gegeben, sondern
               zwei, nämlich neben Weimar-Jena auch Berlin. Das stieß auf die erwartbare Skep-
               sis, die sich allerdings durch die Aufzählung der großen Berliner Namen und Lei-
               stungen einigermaßen zerstreuen ließ. Die Vergleichbarkeit wurde eingestanden
               und der Forschungsauftrag erteilt, wobei neben der historischen Rekonstruktion
               auch die Eigenwilligkeit des kulturellen Gedächtnisses bzw. der Kanonbildung
               bedacht werden sollte. Bekanntlich wurde ja die Weimar-Jenaische Blütezeit zum
               nationalen Kulturmythos erhoben, während die Berlinische als selbstständige
               Entität nie anerkannt, ja im Grunde ignoriert wurde. Davon wird gleich noch zu
               sprechen sein. Umstritten blieb allerdings mein Vorschlag, das Projekt »Berliner
               Klassik« zu taufen. Ich berief mich einerseits auf die klassizistischen Inspirationen
               eines Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Johann Gottfried Schadow
               und Carl Gotthard Langhans, die seit 1790 der Stadt geistig und visuell ein neues
               Gepräge (»Spree-Athen«) gaben, aber ich berief mich andererseits auch auf den
               Provokationswert der Begriffsprägung, mit dem man den Weimar-Jenaischen
               Monopolanspruch herausfordern könne – was ja inzwischen auch eingetreten ist.
               Aber die Skepsis blieb. Die Germanisten kannten nur eine Berliner Romantik,
               die Historiker nur eine Berliner Spätaufklärung und die Kunstgeschichte nur
               einen Berliner Klassizismus als Teil einer europäischen Gesamtbewegung. Die
               Theologen hielten sich zurück, und die Erziehungswissenschaftler waren nicht
               vertreten. Da mir der disziplinäre Tunnelblick der Kollegen wenig hilfreich
               erschien, blieb ich uneinsichtig und versprach, das riskante Begriffskonzept
               persönlich zu verantworten, was mir überraschenderweise gewährt wurde.
                   Seitdem befindet sich – Innovation und Folgelast  – das Projekt in einer
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               anregenden Erklärungsnot. Die Frage, die uns zusetzt, heißt: Wieviel und welche

               1   Vgl. Rainer Specht, Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Wissenschafts- und
                   Philosophiegeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972.
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