Page 121 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Ausgeschlossenen 119
Kunst nutzte? Die Bejahung dieser Frage soll im vorliegenden Zusammenhang
zur Diskussion gestellt werden, auch wenn nicht einwandfrei zu beweisen
ist, dass Kauffmann in ihrer Frontispiz-Vorlage die Musen zu den agierenden
Gegenübern der leblosen Büste macht und Kreativität thematisiert. Die Musen
verehren nicht den Dargestellten, sondern bringen ihm das zu Sagende – so wie
in klassischen Texten, etwa Homers Ilias und Odyssee, die beide mit der Anrufung
der Muse beginnen. Die Muse schafft den Text, Homer wird ihr Sprachrohr. In
der griechischen mündlichen Tradition war die Muse die Schaffende, der Dichter
lediglich ihr Medium und seine Ausführung unterlag wiederum dem Urteil
der Muse. Kauffmanns Tragödie bringt Goethe das Produkt ihrer Kreativität,
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die Schriftrolle. Sie kann lesen und schreiben, nicht nur singen. Das Porträt
in leblosem Gips oder Marmor könnte auf eine anhaltende Kreativitätskrise
deuten, bei der die Musen zu Hilfe kommen. Ob Goethe die Zeichnung so las,
kann hier nicht entschieden werden. In der Italienischen Reise betont Goethe
seine erneuerte Kreativität und Produktivität so sehr, dass Zweifel kommen,
dass die Krise am Ende des römischen Aufenthalts anhaltend überwunden
war. 75
Kauffmann hat Goethe nicht nur diese gezeichneten Musen geschickt,
sondern auch einen antiken Kameen-Ring mit der Darstellung einer »Muse«
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– möglicherweise stellvertretend für ihre eigene Anwesenheit und auf Anregung
durch ihre Kunstgespräche und gemeinsamen Galerien-Besuche in Rom. Goethe
ließ den fünften Band seiner Werkausgabe zwar mit dem Stich nach Kauffmann
verzieren; in der Italienischen Reise überging er aber ihre Zeichnungen und
spricht ziemlich herablassend über ihre gemeinsamen Kunstgespräche. Stich
und Zeichnung angemessen zu lesen und zu hinterfragen, blieb dem Leser
überlassen. Wie Trippels Büste zu verstehen sei, versuchte Goethe jedoch
maßgeblich zu lenken.
74 Zu dieser Uminterpretation der Muse vgl. Eric A. Havelock, The Muse Learns to Write:
Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present, New Haven (etc.) 1986,
23.
75 Von einer Kreativitätskrise in den Jahren 1795 bis 1805 geht aus: David B. Richards,
Goethe’s Search for the Muse: Translation and Creativity, Amsterdam 1979.
76 So formuliert Kauffmann in ihrer Korrespondenz mit Goethe vom 21. September 1788,
vgl. Kauffmann, »Mir träumte« (wie Anm. 64), 117. Die Beschreibung eines Rings im
Weimarer Katalog stimmt damit überein, vgl. Schuster/Gille, Wiederholte Spiegelungen
(wie Anm. 15), Bd. 1, 344.