Page 120 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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118 Waltraud Maierhofer
das weniger hoch, nur annähernd schulterhoch ist und damit die Porträtbüste
zum frontalen Gegenüber der Komödie macht. Auch hier blickt sie auf Amor,
der an ihrer Seite seinen Bogen spannt. Wen hat er für seinen Pfeil ins Visier
genommen? Vielleicht Goethe, aber die Muse hat ein Auge auf den kleinen
Amor, um ihn gegebenenfalls zu hindern. Auch Amor huldigt in dieser Lesart
nicht dem vielgeliebten Goethe. Seine Kontextualisierung im Bild deutet eher
darauf hin, dass die Liebe eine mögliche Gefahr für die Kreativität darstellt.
Ohne auf die Umstände von Goethes Liebesleben in Rom und nach seiner
Rückkehr nach Weimar weiter einzugehen, könnte der umtriebige Amor
als (zarte) Mahnung verstanden werden, dass Kreativität uneingeschränkte
Aufmerksamkeit verlange.
Links des Podests sitzt Melpomene, wiederum die Maske in ihrer linken
Hand, die andere leer, und blickt auf zu Goethe. Melpomene ist die einzige im
Detail ausgeführte Figur der unvollendeten Zeichnung. Könnte die Muse auf
die Malerin selbst und ihren (gewünschten) Einfluss auf Goethe hinweisen?
Musendarstellungen finden sich in ihrem Werk häufiger, besonders unter ihren
allegorischen Porträts (La Morghen und La Volpata als die Musen der Tragödie
und Komödie, 1791; Lady Hamilton als Komödie, 1791), aber auch in ihren
Selbstporträts (insbesondere das Selbstbildnis als Zeichnung, inspiriert von der
Muse der Poesie). Sogar in Werken anderer Maler wie Richard Samuels Die neun
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Musen Großbritanniens gehört die Malerin dazu. Noch heutige Biografien und
romanhafte Darstellungen ihres Lebens titulieren sie gerne als »die Muse von
Rom« oder »die zehnte Muse«. 72
Nun hat die feministische Forschung zwar mit Recht die Vorstellung von
Frauen als Musen kritisiert, als inspirierenden Einfluss auf männliche Kunst,
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eine Vorstellung, wie sie seit der Antike bis ins 20. Jahrhunderte vorherrschte.
Über Jahrhunderte wurde so Frauen die eigene künstlerische und literarische
Kreativität abgesprochen. Versuchte Kauffmann, das Bild der Muse, das im
Klassizismus allgegenwärtig war, wenn nicht zu unterminieren, so doch positiv
für sich zu nutzen, weil sie ja offenbar die Weiblichkeitsideale der Zeit für ihre
71 Vgl. Baumgärtel, Angelika Kauffmann (wie Anm. 68), 241.
72 Siegfried Obermeier, Die Muse von Rom: Angelika Kauffmann und ihre Zeit, Frankfurt
am Main 1987; Simona Weller, Die zehnte Muse: Das Leben der Angelika Kauffmann,
München 1999.
73 Vgl. z. B. Sigrid Weigel, Musen und Junggesellenmaschinen – Mythen vom Geschlecht der
Künste, in: Corinna Caduff, Sigrid Weigel (Hg.), Das Geschlecht der Künste, Köln (etc.)
1996.