Page 119 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Ausgeschlossenen 117
1. Die Büste wurde als Goetheporträt gelesen (insbesondere in der
gedruckten Form als Frontispiz) und verweist auf den abwesenden Autor
(für Kauffmann: auf den aus Rom abgereisten Künstler-Freund).
2. Die Musen bringen und geben dem Dargestellten etwas, nämlich
Inspiration und Anregung, ein in Kauffmanns Werk häufig auftretendes
Motiv.
3. Es gibt eine zweite, leicht abweichende, nicht fertiggestellte und für den
Stich gewählte Zeichnung von Kauffmann, die diese Tendenz verstärkt
ausdrückt.
Der Bezug auf Apollo war dem Lesepublikum entweder nicht offensichtlich
(warum sonst würde Goethe ihn später in seinen Beschreibungen ausdrücklich
und wiederholt hervorheben?) – oder er ging in dem Nachstich mit seinem
kleineren Format verloren. Die Musen der Tragödie und der Komödie
waren an ihren Attributen erkennbar, aber Goethe avanciert hier nicht zum
Musenführer Apollo. Dies ist zu begründen mit dem innovativen Charakter
von Trippels Büste, vor allem aber mit Kauffmanns persönlicher Lesart und
der von der Kultur der Empfindsamkeit bestimmten Verwendung des Genres.
Die Porträtbüste war ursprünglich einzig Monarchen, Eroberern und anderen
›Helden‹ vorbehalten. Damit war Trippels Goethebüste mutmaßlich die erste
seit der italienischen Renaissance, die einen Dichter oder Künstler darstellte.
Im Barock und Rokoko war die Apollonssymbolik Königen vorbehalten.
Was passiert in Kauffmanns Zeichnung, wenn man genau hinsieht?
Melpomene, die Muse der Tragödie, erkennbar an der tragischen Maske und
der antiken Keulenwaffe zu ihren Füßen, steht vor der Büste und blickt sie
ernst an. In ihrer rechten Hand hält sie eine Schriftrolle. Thalia, die Muse der
Komödie, hält ebenfalls ihre Maske in einer Hand, mit der anderen spielt sie
mit Amor – oder hält ihn davon ab, näher an das Bildnis/Goethe heranzutreten.
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In der zweiten, nach Kauffmanns brieflichen Aussagen zuerst angefertigten
und größeren Skizze (gleichfalls ohne Titelbeschriftung, 1788, The Victoria
and Albert Museum, London), steht die Komödie rechts vor dem Podest,
70
69 Vgl. Kauffmanns Brief an Goethe vom 10. Mai 1788; Kauffmann, »Mir träumte« (wie
Anm. 64), Nr. 62.
70 Vgl. die Abbildung und Erstveröffentlichung in Baumgärtel, Angelika Kauffmann (wie
Anm. 68), 334-335.