Page 117 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Ausgeschlossenen                 115

                   Freut euch mit mir daß ich glücklich bin, ja ich kann wohl sagen, ich war es nie in dem
                   Maße: Mit der größten Ruhe und Reinheit eine eingeborne Leidenschaft befriedigen
                   zu  können  und  von  einem  anhaltenden  Vergnügen  einen  dauernden  Nutzen  sich
                   versprechen zu dürfen, ist wohl nichts geringes. 62
               Der dritte Teil der Italienischen Reise, in dem diese Aussagen zu finden sind,
               wurde erst 1829 veröffentlicht. In der Rückschau lobt Goethe seine eigenen
               Werke  seit  1788,  seinen  eigenen  Klassizismus.  Trippels  Apollonische  Büste
               dient als Bild und Instrument, um über Goethes Wendung zum Klassizismus
               zu  schreiben.  Der  Kunsthistoriker  Roland  Kanz  interpretiert  die  Büste
               ebenfalls so: »Unverhohlen  äußert sich darin die Absicht zur selbstverfertigten
               Dichterapotheose.  [...]  Im  edlen  Stil  der  Antike,  gottähnlich,  ist  die
               Porträtbüste ein Propagandainstrument im Dienste der eigenen Klassizität.«
                                                                              63
               In der Italienischen Reise fungiert die Büste als Symbol einer Epoche und ihrer
               höchsten Ideale und damit von Goethes Kanonisierung als dem Autor dieser
               Epoche. Durch seine Metamorphose in Italien wurde aus dem Verfasser des
               empfindsamkeitskranken Werther der Schöpfer der Iphigenie und des Tasso –
               der eminente deutsche Denker in der Tradition der klassischen Antike.
                   Der Porträtierte repräsentiert das Apollinische. Er schreibt, in rascher Folge
               beende er angefangene Werke wie Egmont und sei zufrieden mit seinen raschen
               Fortschritten im Studium der (antiken) Kunst. Er braucht keine Inspiration von
               außen, keine Muse. Und damit kommen wir zu Angelika Kauffmanns Lesart
               und Kontextualisierung der Büste, die darin, so ist zu zeigen, wesentlich von
               Goethes Selbstdarstellung abweicht. Goethe sieht sich (mit Trippel) als Apollo
               Musagetes, von den Musen verehrt und sie anführend, nicht als ein Künstler, der
               die Musen braucht.
                   Gehen wir also von der Zeit, in der Goethe die Italienische Reise redigierte
               und der Öffentlichkeit zugänglich machte, zurück zu Goethes Zeit in Italien.
               Schon damals nämlich verwendete Angelika Kauffmann die Büste nach seiner
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               Abreise in zwei für Goethe bestimmten Zeichnungen.  (Goethe wies Trippel



               62   Goethe, Italienische Reise (wie Anm. 55), 478-479 (datiert »Den 6. Sept: [1787]«).
               63   Roland Kanz, Dichter und Denker im Porträt: Spurengänge zur deutschen Porträtkultur
                   des 18. Jahrhunderts, München 1993, 193 und 195.
               64   So berichtet Kauffmann in ihrem Brief an Goethe vom 21. September 1788 (Angelica
                   Kauffmann, »Mir träumte vor ein paar Nächten, ich hätte Briefe von Ihnen empfangen«.
                   Gesammelte Briefe in den Originalsprachen, hg. v. Waltraud Maierhofer, Lengwil 2001,
                   Nr. 72).
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