Page 112 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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110                      Waltraud Maierhofer

                    Alarcos ist ebenfalls als Experiment einzustufen und verbindet Klassizistisches
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                 und Romantisches.  Auch dieses Stück fiel durch. Das Publikum zeigte wenig
                 Sinn für den Ernst von Goethes Inszenierung mit ihren klassizistischen Kostümen
                 und pathetischen, gravitätischen Gebärden. Goethes direkte Intervention – er
                 soll sich erhoben und ins Publikum geschimpft haben: »Man lache nicht!« –
                 erzielte als Anekdote eine gewisse Berühmtheit. 45
                    Jagemanns Satire auf die beiden Aufführungen macht deutlich, dass ihre
                 Kritik  an  Goethe  als  Theaterleiter  nicht  persönlich  war,  sondern  den  Kern
                 seiner  klassizistischen  Ansichten  traf,  mit  denen  sie  nicht  übereinstimmte.
                 In  Ion  und  Alarcos  betonte  Goethe  starre  Haltungen  und  eine  statische
                 Gebärdensprache, die oft antike Gemälde und Statuen evozierten, wie schon
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                 Böttiger in seinem Aufsatz herausstellte.  Ion ließ er in der Haltung des Apoll
                 von Belvedere erstarren, und die Zuschauer sollten seine eigene Reaktion in
                 Rom  nachempfinden.  Das  Weimarer  Publikum  aber  bewunderte  nicht  den
                 Bildhauer (Goethe), sondern die Schauspielerin. Goethe stellte durch seinen
                 Aufsatz  Weimarisches  Hoftheater  das  Supremat  des  Regisseurs  und  seines
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                 Kulturprogramms  wieder  her  und  lenkte  die  Rezeption  auf  lange  Sicht.
                 Darin betonte er anti-naturalistische Bewegungsprinzipien, die nach Lebenden
                 Bildern und Attitüden klingen, Darstellungsformen, über die er in späteren
                 Werken (Die Wahlverwandtschaften, 1809; Italienische Reise, 1816/17) durchaus
                 ambivalent, wenn auch oberflächlich lobend schreiben sollte.  Goethe begann
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                 44   Diese Wertung vertritt auch Chamberlin (ebd., 518).
                 45   Laut Bericht von Carl von Beaulieu-Marconnay sagte Goethe »mit donnernder Stimme
                    und  drohender  Bewegung:  »Stille!  Stille!«  (C.  v.  Beaulieu-Marconnay,  Goethes  Cour
                    d’Amour. Bericht einer Teilnehmerin, nebst einigen Briefen, in: Goethe-Jahrbuch 6, [1885], 71;
                    zitiert nach Emde in Kommentar zu Jagemann, Satire [wie Anm. 8], 959, Anm. Nr. 58).
                 46   Böttiger, Über die Aufführung  (wie Anm. 16), 96.
                 47   Noch bei Apel, Man lache nicht! (wie Anm. 15) kommt Jagemann gegenüber Goethes
                    Programm schlecht weg.
                 48   So lobte er sich etwa für die »belebtern Tableaux« und ihre »meist vollendete Darstellung«
                    (Goethe, Weimarisches Hoftheater [wie Anm. 19], 696). Die Literatur zu den Lebenden
                    Bildern ist umfangreich; hier sei nur auf meine Darlegungen dazu mit Blick auf Emma
                    Hamiltons  Attitüden  verwiesen:  Vier  Bilder  und  vielfältige  Bezüge.  Die  sogenannte
                    ›Väterliche  Ermahnung‹  und  die  Figuren  in  den  ›Wahlverwandtschaften‹,  in:  Richard
                    Fisher  (Hg.),  Ethik  und  Ästhetik. Werke  und Werte  in  der  Literatur  vom  18.  bis  zum
                    20. Jahrhundert. Festschrift für Wolfgang Wittkowski zum 70. Geburtstag, Frankfurt
                    am Main (etc.) 1995, 363-382; Goethe on Emma Hamilton’ s Attitudes: Can Classicist Art
                    Be Fun? In: Goethe Yearbook 9 (1999), 222-252.
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