Page 113 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Ausgeschlossenen                 111

               seine »Didaskalien« mit den jungen Schauspielern erst 1803, auch die Regeln
               für  Schauspieler  entstanden  später.  Es  wäre  weiter  zu  prüfen,  inwiefern  er
               darin sein Ideal aus Weimarisches Hoftheater zurücknimmt und eventuell sogar
               Jagemanns Kritik berücksichtigt. 1802 jedenfalls unterlag die Schauspielerin
               im »damals neu zu definierenden Konflikt um die Hierarchie von Regisseur
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               und Schauspieler,«  ihr blieb nur die schwache Äußerung in der Satire. Von
               einer öffentlichen Wirkung der Satire ist nichts bekannt. Sie wurde erst im
               20. Jahrhundert zusammen mit der stark redigierten Autobiografie Jagemanns
               veröffentlicht und blieb so gut wie unbeachtet. 50
                   Jagemann  hatte  zweifellos  Verdienste  als  Sängerin  und  Schauspielerin,
               die aber über ihre Beziehung mit Carl August und Gerüchten, einschließlich
               solcher  über  angebliche  Intrigen  gegen  Goethe,  in  Vergessenheit  gerieten.
               Dabei arbeitete sie mit Goethe lange Zeit produktiv zusammen und etablierte
                                                                           51
               »mit ihm gemeinsam und mit Erfolg die italienische Oper in Weimar.«  Ab
               1817 bildete sie Schauspieler aus. Ihre Bühnenwirkung galt als »apollinisch,
               distanziert,  beherrscht,  sogar  spröde«,  und  Ruth  Emde  kommt  zu  der
               Schlussfolgerung, dass sie »für Goethes Inszenierungen eine ideale Besetzung«
               war, auch wenn er ein lieblicheres Aussehen bevorzugte.  Die Schauspielerin
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               lobte in ihrer Satire Goethe namentlich als Dramenautor und Menschenkenner,
               kritisierte aber, dass er den Schauspieler/innen unnatürliche Regeln auferlegte,
               die ihren eigenen Erfahrungen und denen des Ensembles widersprächen und
               außerdem den Stücken nicht gerecht würden. Sie kannte die Wirkung ihrer
               Bühnenpersönlichkeit und ihrer Bewegungs- und Sprechart. Goethe inszenierte
               Jagemann in Ion zwar als Apollo, aber für zwei apollinische Charaktere war
               wohl kein Platz im klassischen Weimar. Wie Goethe sein Image als ›Apollo‹
               festschrieb, auch und gerade wo es Kritik erfuhr, wird im folgenden dritten und
               letzten Abschnitt deutlich.









               49   Emde, Wahlverwandtschaften (wie Anm. 33), 662.
               50   Eduard  von  Bamberg,  Die  Erinnerungen  der  Karoline  Jagemann  nebst  zahlreichen
                   unveröffentlichten Dokumenten aus der Goethezeit, Dresden 1926, 292-301; es handelt
                   sich um die Vorlage für den Nachdruck in Jagemann, Selbstinszenierungen.
               51   Emde, Wahlverwandtschaften (wie Anm. 33), 663.
               52   Ebd., 663.
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