Page 110 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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108 Waltraud Maierhofer
sollte dadurch die Verbindung des Göttlichen und des Menschlichen offenbar
werden. Seine Aufführung versuchte eine Reihe solcher Lebender Bilder, die sich
langsam auflösten und neu gestalteten. Diese klassizistische Sicht auf Statik und
Dynamik wurde ergänzt durch antikisierende Kulissen (ein Tempel), Kostüme und
Requisiten, und alles dies karikierte Jagemann in ihrem Text. Goethe verteidigte
die Detailtreue als wichtiges Ingredienz seiner klassizistischen Ästhetik, dem
Programm nämlich, »wieder einmal das Antike mit dem Modernen im Ganzen
zu vergleichen« und die Frage zu klären, »in wie fern wir den Alten nachfolgen
können und sollen.« 35
Die Uraufführung fand am 2. Januar 1802 in Weimar statt, und dazu
waren auch Gäste aus der freisinnigeren Universitätsstadt Jena eingeladen. Das
Weimarer bürgerliche Publikum fühlte sich provoziert und fand das Stück
unmoralisch, weil der Schwerpunkt auf Apollos sexuellem Fehlverhalten lag
und es billigte, ferner die Lösung des potentiell tragischen Konfliktes strenge
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moralische Maßstäbe vermissen ließ. Der aufklärerisch-autonom gedeutete
klassizistische Kern stieß auf die gelebte christliche Moral des Bürgertums.
Caroline von Herders Empörung, die sie gegenüber Karl Ludwig von Knebel
ausdrückte, ist wohl repräsentativ. Sie schrieb in einem Brief: »Ein schamloseres,
frecheres, sittenverderbenderes Stück ist noch nicht gegeben. Jena war wieder
herüberzitiert zum Klatschen. Bei der zweiten Vorstellung waren wenige darin;
zum drittenmal wollen sie’s nicht wagen; denn da möchte das Haus ganz leer
bleiben. Ach Freund, wohin ist Goethe gesunken!« 37
Carl August Böttiger schrieb eine spöttische Kritik, deren Veröffentlichung
Goethe mit dem Argument verhinderte, er wolle andernfalls als Theaterdirektor
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zurücktreten. Warum war ihm das Stück so wichtig? Mit Friedmar Apel ist dies
so zu begründen: An dieser Aufführung zeigte sich besonders, wie Goethe das
35 Goethe, Weimarisches Hoftheater (wie Anm. 19), 696.
36 Dazu mehr bei Apel, Man lache nicht! (wie Anm. 15), 698. Wolfgang Pross analysiert den
auf die Aufführung folgenden Streit zwischen Goethe und Schiller einerseits und Herder
und Wieland andererseits als ein Paradebeispiel für Spannung zwischen ästhetischen
und religiös-ethischen Werten; vgl. Wolfgang Pross, Die Konkurrenz von ästhetischem
Wert und zivilem Ethos. Ein Beitrag zur Entstehung des Neoklassizismus, in: Roger Bauer
(Hg.), Der theatralische Neoklassizismus um 1800. Ein europäisches Phänomen? Frankfurt
am Main (etc.) 1986, 64-126.
37 Caroline von Herder an K. L. v. Knebel, 6. Januar 1802, in: Wilhelm Bode (Hg.), Goethe
in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, neu hg. v. Regine Otto und Paul-Gerhard
Wenzlaff, Berlin (etc.) 1979, Bd. 2, 201.
38 Apel, Man lache nicht! (wie Anm. 15), 695.