Page 108 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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106                      Waltraud Maierhofer

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                 nicht« veranlasst haben soll.  August von Kotzebue, Autor zahlreicher trivialer
                 Dramen,  soll  besonders  laut  applaudiert  haben.  Kotzebue  hatte  das  Wort
                 »Schwachmatikus«  –  ursprünglich  ein  Wort  aus  der  Studentensprache  –  in
                 einer Aufzählung von Schimpfwörtern in seinem Schauspiel Doktor Bahrdt mit
                 der eisernen Stirn, oder die deutsche Union gegen Zimmermann (1790) verwendet
                 und  es  literaturfähig  gemacht.  Er  veröffentlichte  im  darauffolgenden  Jahr
                 anonym seine Satire auf Goethe und den Weimarer Musenkult (Expectoration.
                 Ein Kunstwerk und zugleich ein Vorspiel zum Alarcos, 1803), in der ebenfalls die
                 Schlegels Goethe huldigen. 26
                    An  Jagemanns  Satire  wird  deutlich,  dass  sie  Goethes  (und  Schillers)
                 klassizistische Aufführungsprinzipien durchaus verstand, aber nicht teilte, ihre
                 eigenen  Vorstellungen  jedoch  gegenüber  Goethe  nicht  durchsetzen  konnte.
                 Um dies zu belegen, müssen wir einen Schritt zurückgehen und erörtern, was
                 Jagemann zu ihrer Satire veranlasste. Goethe inszenierte am Weimarer Theater
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                 das fünfaktige Schauspiel Ion nach Euripides.  Der Autor der Bearbeitung,
                 August Wilhelm Schlegel, blieb ungenannt, dabei handelte es sich immerhin um
                 den (neben seinem Bruder Friedrich) wichtigsten Begründer und Theoretiker
                 der  deutschen  (Früh-)Romantik.  Oder  vielmehr  umgekehrt:  Gerade  weil
                 August Wilhelm und Friedrich Schlegel in ihrer Zeitschrift Athenaeum in den
                 vorangegangenen  Jahren  (1798–1800)  ein  anderes  Kunstprogramm  als  das
                 Goethesche verkündet hatten, sollten unter Goethe aufgeführte Dramen von
                 ihnen  die  universale  »Geltung  des  griechischen  Ideals  und  die Wirksamkeit
                 einer gebundenen Bühnensprache« beweisen. 28
                    Das Drama Ion (geschrieben 1801) ist ein klassizistisches Stück und trotz
                 der  Modernisierung durch August Wilhelm Schlegel  eher untypisch  für  die

                 25   Zeitgenössischer Bericht, zitiert nach Emde in Kommentar zu Jagemann, Satire (wie
                    Anm. 8), 959, Anm. Nr. 58.
                 26   Emde meint, Jagemann lehnte sich »offenkundig« daran an. – Aber könnte es nicht
                    auch umgekehrt gewesen sein, und Kotzebue kannte und verwendete Jagemanns Text,
                    der wohl unter dem unmittelbaren Eindruck der Uraufführungen entstand, also früher
                    als der Kotzebues? Vgl. Emde in Kommentar zu Jagemann, Satire (wie Anm. 8), 953,
                    Anm. Nr. 2.
                 27   Erstdruck: August Wilhelm Schlegel, Ion. Ein Schauspiel, Hamburg 1803.
                 28   Apel, Man lache nicht! (wie Anm. 15), 696; zu den weiteren Motiven ebd., 695-698.
                    Dabei blieb außer Acht, dass August Wilhelm Schlegels eigene literarische Werke ohne
                    Erfolg blieben und Friedrich Schlegel in seinem Roman Lucinde (1799) zwar inhaltlich
                    provoziert (worauf Jagemann, Satire [wie Anm. 8], 947 anspielt: »Euripides [...] / Sah
                    nicht  Lucindens  Indulgenzen  /  Die  jetzt  sein  Stück  sich  einverleibt.«)  –  aber  nicht
                    gerade eine Stärke für epische Handlungsgestaltung bewiesen hatte.
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