Page 107 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Ausgeschlossenen 105
seine Theaterleitung und -erfolge und insbesondere die Aufführung von Ion
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lobte. Jagemann durchschaute also Inhalt und Absicht von Goethes Aufsatz
Weimarisches Hoftheater, der kurz darauf statt Böttigers Besprechung erschien.
In der zweiten Szene geht es um das zweite Stück, Alarcos. Ohne den
Titel zu nennen, aber mit einer treffenden Charakterisierung besprechen
es der »Mitdirektor«, womit wohl Schiller gemeint ist, und wiederum die
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drei Wöchner sowie der Chor. Sogar der Mitdirektor meint, dass das Stück
schlecht und unsinnig sei. Er stellt sich ein auf einen »Durchfall«, den er »still
[...] ertragen« wolle. Dann weist er die Schauspieler im Sinne Goethes an, auf
Würde zu achten (»der Goethe rät euch gut: / Nichts reizt den Spott, was ihr mit
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Würde tut«). Der Chor singt sodann ein böses Wiegenlied über das Publikum.
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Zeilen aus dem Lied (»Schlaf, Kindlein, schlaf! Das Publikum ist brav [...].« )
wechseln mit bissigen Kommentaren der Wöchner und des Mitdirektors über
das unsinnige Stück.
Im Epilog gibt sich der Oberdirektor wieder gefasst und erhaben (»Ich bin
der Fürst der Poesie!«). Von oben herab belächelt er die ungenialen Dichter und
den Kritiker, die beide »durchgefallen« seien. 23
Am Schluss wie im ganzen Stück verwendet Jagemann Anspielungen auf
in Weimar Gesagtes und Gedrucktes sowie Zitate aus den gespielten Dramen.
Die Schlusszeilen – »Aus Furcht vor Durchfall sind sie durchgefallen / So geht
es den Schwachmatikussen allen!« – verweisen auf den fatalen Ausspruch in
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Alarcos, dass der alte König »Aus Furcht zu sterben, endlich gar gestorben sei!«
– jener Ausspruch, der das tobende Gelächter im Weimarer Publikum ausgelöst
und Goethe zur Intervention mit seinem berühmt gewordenen »Man lache
19 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Weimarisches Hoftheater, in: J. W. G., Sämtliche
Werke (wie Anm. 4), Bd. 6.2, 692-703.
20 Nach Emde in Kommentar zu Jagemann, Satire (wie Anm. 8), 957, Anm. Nr. 44,
leitete Schiller die Proben zu Alarcos; er vertrat im Brief an Goethe vom 8. Mai 1802
eine dieser Stelle ähnliche Position über das Stück. Vgl. dazu Marion Müller, Zwischen
Intertextualität und Interpretation. Friedrich Schillers dramaturgische Arbeiten 1796–1805,
Karlsruhe 2004.
21 Emde in Kommentar zu Jagemann, Satire (wie Anm. 8), 951.
22 Ebd., 951.
23 Ebd., 952. Diese fiktive Reaktion ist nicht unvereinbar mit der Erinnerung von Anton
Genast, in der Goethe zufrieden-herablassend erscheint (ebd., 959, Anm. 58).
24 Ebd., 952. Hier kann nicht allen Anspielungen nachgegangen werden. Der hervorragende
Kommentar von Ruth Emde bietet umfangreiche weitergehende Informationen.