Page 106 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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104                      Waltraud Maierhofer

                    Aber Regeln sich macht, nicht den Gesetzen folgt,
                    Die Erfahrung die andern lehrt.

                    Und von oben herab wirft er uns Handwerk vor,
                    Weist als einzige Kunst uns auf die Formen hin,
                    Als ob rückwärts die Zeit ginge und wir mit ihr –
                    Jon, räch uns für diesen Schimpf! 14
                 Im  Zwischenspiel  besucht  Ubique  den  »Dichter«  –  eindeutig  gemeint  ist
                 wiederum  Goethe.  Ubique  muss  hören,  dass  seine  Kritik  nicht  erscheinen
                 dürfe. Es kommt zu wechselseitigen Beleidigungen, worauf ihn der Dichter
                 am Ohr zieht und mit einem Tritt hinaus- und die Treppe hinunterwirft. Die
                 Szene persifliert Goethes tatsächliche Reaktion auf Böttigers Besprechung der
                 Aufführung des Ion: Er unterdrückte sie, obwohl sie schon für das Journal des
                 Luxus und der Moden gesetzt war, und zwar mit der Drohung, ansonsten die
                 Direktion niederzulegen.  Dieses Argument kannte Jagemann offensichtlich,
                                     15
                 denn sie wiederholt es in der Satire (»der Bogen wird kassiert, / Sonst leg ich
                 das  Theaterzepter  nieder«).  Sie  verwendet  Stellen  aus  Böttigers  Aufsatz,  der
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                 erst von dessen Sohn aus dem Nachlass veröffentlicht wurde.  Deutlich nennt
                 sie Goethes Ziel beim Namen, »der Kritik den Mund [zu] verbieten«.  Im
                                                                            17
                 Schluss-Monolog  spricht  der  Direktor,  nun  wieder  gefasst,  den  Entschluss
                 aus,  selber  »die  Kritiken  [zu]  schreiben«  und  »für  Reklame  [zu]  sorgen«.
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                 Was Goethe ja mit dem Aufsatz Weimarisches Hoftheater auch tat, in der er

                 14   Ebd., 949.
                 15   Vgl. Emde in Kommentar zu Jagemann, Satire (wie Anm. 8), 956f.; auch Friedmar Apel,
                    Man lache nicht!, in: Gerhard Schuster, Caroline Gille (Hg.), Wiederholte Spiegelungen
                    – Weimarer Klassik, Bd. 2, München 1999, 695-703.
                 16   Carl August Böttiger, Über die Aufführung des Ion auf dem Hoftheater zu Weimar, in:
                    C. A. B., Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl Aug[ust]
                    Böttiger’s handschriftlichem Nachlasse, hg. v. K. W. Böttiger, Leipzig 1838, 1. Bd, 87-
                    97. Zum Beispiel lobte Böttiger Goethes Mut: »Was in einer puren Männergesellschaft
                    nicht den geringsten Anstoß gab, kann in unserm aus beiden Geschlechtern gemischten
                    Zuschauerpublicum durch üppige Verschleierungen vielleicht nur noch mehr Ärgerniß
                    geben. Wer wollte also nicht im Voraus dem kühnen Dichter Dank wissen, der, alle diese
                    Bedenklichkeiten nicht achtend, aus jenem Euripideischen Ion uns eine neue herrlichere
                    Schöpfung mit der zartesten Schonung des weiblichen Publicums hervorrufen konnte.«
                    (ebd., 89). Bei Jagemann sagt Ubique: »Ich lobte alles, was zu loben ist, / Und habe
                    das  Obszöne,  das  Athens  /  Mannspublikum  nicht  störte,  samt  alldem,  / Was  noch
                    hinzukam, deshalb nur getadelt, / Weils Frauen hören.« (Jagemann, Satire [wie Anm.
                    8], 950.) Die beiden Texte können hier leider nicht detaillierter verglichen werden.
                 17   Emde in Kommentar zu Jagemann, Satire (wie Anm. 8), 950.
                 18   Ebd., 950.
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