Page 105 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Ausgeschlossenen                 103

               und  der  als  »Ubique«  verschlüsselte  Carl  August  Böttiger,  der  umtriebige
               Weimarer Gymnasialdirektor und Mitherausgeber des Neuen teutschen Merkur,
               von  Goethe  und  Schiller  in  ihrem  Briefwechsel  bekanntlich  abschätzig  als
               »Magister  Überall«  tituliert.  Der  Theaterdirektor  instruiert  die  beiden  sich
               unterwürfig gebenden Kritiker, an negativen Bemerkungen über das Publikum
               nicht sparend, nach dem Vorbild seiner Iphigenie für seine Bühne ein »griechisch
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               Stück« umzuschreiben, und zwar »modern«.  Er verspricht August Wilhelm und
               Friedrich für diese »Fürstenehrung« schöne Aufführungen und Ruhm. Diese
               reagieren  demütig-hoffnungsvoll  und  freuen  sich  schon  auf  »Lorbeerkranz«
               und »Weihrauch«. Ubique jedoch hat gelauscht und will den Plan verderben,
               und sei es »einzig mit Zitaten«, mit Besprechungen. 11
                   In  der  ersten  Szene  spricht  der  Direktor  zu  den  »drei  Wöchnern«  (das
               waren die Schauspieler Heinrich Becker, Anton Genast und Carl Schall, die
               in Weimar abwechselnd für je eine Woche Regie führten – obwohl letzterer
               zur fraglichen Zeit nicht mehr dazugehörte). Er stellt ihnen das Drama Ion
               vor, ohne jedoch viele Namen zu verwenden. Die Wöchner tun ihre Meinung
               dazu kund und überlegen die Wirkung. Der Direktor (»Habt ihr genug nun
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               gekrittelt« )  instruiert  sie  zum  »schönen  Spiel  /  Von  Rede  und  Gebärde«:
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               Nicht wie die Hammelherde.«  Er will Kostüme, die sich schön im antiken
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               Stil drapieren lassen, außerdem Masken. Schließlich kommentiert der Chor
               das  Gehörte  mit  Gebeten  an  Thespis,  ihren  »Ahn«  (Thespis  war  der  erste
               griechische Tragödiendichter und Schauspieler im Athen des 6. Jahrhunderts
               v. Chr.), und an Apoll (den Gott der Dichtung und Musik). Sie gipfeln in
               Aussagen wie den folgenden: dass die Schauspieler durchaus mitdichten und
               dem Werk erst »Gestalt und Sinn« geben; dass ihre Aufgabe jedoch »[q]ualvoll«
               sei, wenn das Werk unsinnig und platt und die Rollen schwach seien. Sie preisen
               namentlich Goethe und Schiller und deren dramatische Figurenerfindungen.
               Als  Theaterdirektor  schränke  Goethe  (wiederum  mit  Namen  genannt)  sie
               allerdings zu sehr ein und stelle Regeln auf, die der Erfahrung widersprächen,
               nur auf das Äußerliche gingen und rückständig seien:





               10   Jagemann, Satire (wie Anm. 8), 945.
               11   Ebd., 946.
               12   Ebd., 947.
               13   Ebd., 947.
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