Page 104 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 und Rüdesheimer (alle im 7. Auftritt). Diese Weine wären zumindest in Weimar
                                       7
                 als  Goethes  Lieblingsweine   erkannt  und  damit  Goethe  als  Gegenstand  der
                 Satire entlarvt worden. Vulpius erweiterte also nicht nur (vermutlich auf eigene
                 Initiative) den Text, um das Stück als Singspiel populärer zu machen, sondern
                 versteckte darin eine kleine Rache an dem Theaterdirektor, der die Rolle seines
                 schlechtbezahlten »Theaterdichters« verschwieg.
                    An  Goethes  Kanonisierung  änderte  dies  nichts,  im  Gegenteil  sind
                 Berühmtheit und Klassizität oft am Vorhandensein von Satiren und Karikaturen
                 ablesbar.



                                       Caroline Jagemann


                 Die in Weimar geborene Caroline Jagemann, später geadelte von Heygendorff
                 (1777–1848)  kam  1797  ans  Weimarer  Hoftheater,  dessen  Direktor  Goethe
                 war. Sie wurde zur Mätresse von Herzog Carl August und avancierte zur ersten
                 Sängerin  und  Schauspielerin  am  Ort.  Natürlich  sorgte  diese  Kombination
                 sowie ihre fordernde Diva-Persönlichkeit für Klatsch und Gerüchte, die auch
                 in die Rezeption von Goethes Theaterarbeit und die ›Geschichtsschreibung‹
                 über das Weimarer Theater einflossen. In beiden erscheint sie von Anfang an als
                 Gegenspielerin Goethes und mächtige Intrigantin, und Goethe trug mit seinen
                 Aussagen nicht wenig dazu bei.
                    Jagemann  schrieb  ein  kurzes  satirisches  Stück  in  Versen  über  Goethes
                 Aufführung  der  beiden  Dramen  Ion  von  August  Wilhelm  Schlegel  nach
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                 Euripides und Alarcos von Friedrich Schlegel.  Es besteht aus einem Prolog und
                 zwei Szenen mit einem Zwischenspiel sowie einem kurzen Epilog.
                    Im  Prolog   treten  auf:  der  »Oberdirektor«,  offensichtlich  Goethe,  die
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                 »Kritikerbrüder« August Wilhelm und Friedrich, deutlich die Schlegel-Brüder,

                 7   Freundlicher Hinweis von Walter Salmen. Vgl. Georg Schwedt, Goethe und der Wein
                    in  seinen  Werken,  [Vortrag],  Niedersächsische  Staats-  und  Universitätsbibliothek
                    Göttingen; Werner Bockholt, »Da hab ich mich ja umsonst besoffen.« Goethe und der
                    Wein, Warendorf 1999.
                 8   Caroline  Jagemann,  Satire  auf  die  Produktionen  des  Ion  und  Alarcos,  in:  Jagemann,
                    Selbstinszenierungen (wie Anm. 1), Bd. 2: Briefwechsel, Dokumente, Reflexionen, 945-952.
                 9   Assoziationen  an  das  »Vorspiel  auf  dem  Theater«  zu  Faust  I  mit  seiner  satirischen
                    Behandlung der grundverschiedenen Ziele von Autor, Theaterdirektor und Schauspieler
                    drängen sich auf; Faust I wurde zwar erst 1806 veröffentlicht, war aber von Goethes
                    langjährigen Erfahrungen am Theater genährt.
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