Page 103 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Die Ausgeschlossenen                 101

               seinen  Tagebüchern  und  erst  1830  als  Teil  der  autobiografischen  Schriften
               veröffentlicht. In einem Eintrag zum Jahr 1791, dem ersten Jahr seiner Tätigkeit
               als Theaterdirektor, nennt er hier Vulpius en passant mit wenigen Worten:

                   Ein  unermüdlicher  Concertmeister,  Kranz,  und  ein  immer  thätiger  Theaterdichter,
                   Vulpius, griffen lebhaft mit ein. Einer Unzahl italiänischer und französischer Opern
                   eilte  man  deutschen  Text  unterzulegen,  auch  gar  manchen  schon  vorhandenen  zu
                   besserer Singbarkeit umzuschreiben. Die Partituren wurden durch ganz Deutschland
                   verschickt. Fleiß und Lust, die man hiebei aufgewendet, obgleich das Andenken völlig
                   verschwunden sein mag, haben nicht wenig zur Verbesserung deutscher Operntexte
                   mitgewirkt. 5
               Goethe postuliert annähernd vier Jahrzehnte später eine anhaltende, wenn auch
               wenig  gewürdigte  Wirkung  seiner  Arbeit  mit  damals  populären  Opern  des
               18. Jahrhunderts, die zu dieser Zeit, 1830, nicht mehr zum Kanon gehörten.
               An ihre Stelle waren romantische Opern getreten, worauf Goethe nicht eingeht.
               Auch das Ausmaß von Vulpius’ Beteiligung geht aus dieser Stelle nicht hervor.
               Er  bearbeitete  selbstständig  ganze  Dramen  und  Opern  und  übersetzte  wie
               bei Circe und den Theatralischen Abenteuern (mit der Musik von Domenico
               Cimarosa) das gesamte Rezitativ.
                   Das umfangreiche Vulpius’sche Werk wurde noch nicht auf Goethe-Satiren
               hin  untersucht,  und  an  dieser  Stelle  kann  hierzu  nur  ein  kleiner  Hinweis
               erfolgen. Vulpius schrieb nämlich einen erweiterten Sprechtext zu Circe,  die
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               aus der kurzen Farsetta ein komisches Singspiel machte. Ob es je aufgeführt
               wurde, ist bisher nicht nachgewiesen. Die Bearbeitung verändert die Grundlinie
               der Handlung nicht. Beide Fassungen bauen auf dem Mythos von der Zauberin
               Circe  auf,  die  Fremde,  die  auf  ihre  Insel  gelangen,  in Tiere  verwandelt.  In
               diesem Fall gelingt es den zwei Ankömmlingen, die Zauberin mit Hilfe von
               einer Dienerin und einem Diener von Circe zu entmachten und gemeinsam zu
               entkommen. Die Satire auf Goethe besteht darin, dass der eine Fremde, der der
               schlauen und mutigen Dienerin Lindora für ihre Hilfe die Ehe verspricht, zum
               kunstdilletierenden, antikebegeisterten, italienreisenden Baron gemacht wird,
               und er außerdem deutlich Freude an leiblichen Genüssen zeigt. Insbesondere
               hat er einen Vorrat an Wein dabei, den er bereitwillig teilt. Und diese Weine
               werden bei ihren Namen genannt: Hochheimer (4. Auftritt), Laubenheimer


               5   Goethe, Tag- und Jahreshefte 1791, in: Goethes Werke. hg. im Auftrage der Großherzogin
                   Sophie von Sachsen, 4 Abteilungen in 133 Bdn., Weimar 1887–1919 (Weimarer Ausgabe;
                   Reprint: München 1987). I. Abt., Bd. 35 (1892), 18f. (Hervorhebungen dort gesperrt).
               6   Gedruckt in Goethe/Vulpius, Circe (wie Anm. 3), 32-52 (jeweils rechte Spalten).
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