Page 33 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Potsdam und Weimar um 1780              31

                   Herzog Carl August griff selbst zur Feder, um im dritten Stück des Tiefur-
               ter Journals ausführlich über die großartige Huldigungsfeier zu berichten, die
               man Goethe an seinem Geburtstag bereitet hatte. Unter aktiver Beteiligung des
               ganzen Hofes war ein Stück aufgeführt worden, in dem die Göttin Minerva
               persönlich im Buch des Schicksals las, vor 31 Jahren sei »dem Publico und
               verschiedenen diese Wohltat erkennenden Menschen« ein »Mann« geschenkt
               worden, »welchen wir jezt für einen unserer besten und gewiß mit Recht für
               den weisesten Schriftsteller ehren« [!]  Ein Genius hielt den Buchstaben G in
               die Höhe, der Gott Apollon schenkte ihm seine Leier, die Muse verehrte ihm
               Kränze und auch Momus, der Gott der Kritik, gab ihm ein Geschenk in Gestalt
               einer Peitsche, »an deren Riemen die Buchstaben Aves hingen« [eine Anspie-
               lung auf Goethes Vögel]. Das war Carl Augusts indirekte Erwiderung auf des
               Königs Pamphlet – eine elegante Abfuhr, die er als Freund Goethes dem Verfas-
               ser von De la littérature allemande erteilte, indem er ihn wissen ließ, daß man in
               Weimar Goethe als den weisesten Schriftsteller ehrte.
                   Und wie reagierte Goethe selber auf die königliche Attacke? Er war sich
               bewusst, mit seiner Persiflierung des preußischen Adlers den alten Fritz wie ein
               ungezogener Junge herausgefordert zu haben. Zunächst hatte er noch eine Er-
               widerung auf des Königs Pamphlet entworfen in Gestalt eines Wirtshausgesprä-
               ches zwischen einem Franzosen und einem Deutschen in einem Frankfurter
               Gasthof. Aber nachdem Justus Möser die deutsche Literatur und speziell Götz
               von Berlichingen in aller Öffentlichkerit glänzend verteidigt hatte, gab Goethe
               den Gedanken einer eigenen Erwiderung auf und schrieb mit souveräner Hei-
               terkeit an die Tochter von Justus Möser:
                   Wenn der König meines Stücks in Unehren erwähnt, ist es mir nichts befremdendes.
                   Ein Vielgewaltiger, der Menschen zu Tausenden mit einem eisernen Scepter führt, muß
                   die Production eines freien und ungezogenen Knaben unerträglich finden. Überdies
                   möchte ein billiger und toleranter Geschmack wohl keine ansprechende Eigenschaft
                   eines Königs seyn, so wenig sie ihm, wenn er sie auch hätte, einen großen Nahmen
                   erwerben würde [...]. 42



                   Wielands, Herders, Caroline Herders, Carl von Knebels, der Kammerherren von Sek-
                   kendorff und von Einsiedels waren an diesem Journal beteiligt, Goethe unter anderem
                   mit den Gedichten Edel sei der Mensch, hilfreich und gut und Auf Miedings Tod. Das
                   Tiefurter Journal widerlegte des Königs Behauptung, dass er die Zeit nicht mehr erleben
                   würde, da das Deutsche die Sprache der Höfe sein werde.
               42  An Justus Mösers Tochter Jenny von Voigts, datiert vom 21. Juni 1781 (Goethes Werke
                   [wie Anm. 29], IV. Abt., Bd. 5, 145).
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