Page 158 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 verständliche Sprache, aufwändige Werke, die viele Jahre der Übung und des
                 Verzichtes bedürfen – sind solche Formen des Handicaps. All das sind gute Fit-
                 nessindikatoren, denn sie signalisieren den Frauen: Ich bin fit! Ich kann es mir
                 leisten, solche teuren Signale zu produzieren!
                    Das  dunkle  Gemurmel,  das  undeutliche  Geraune  des  Ungefähren,  die
                 komplexen Andeutungen, das Verlieren im Und-so-weiter der (musikalischen,
                 literarischen, argumentativen) Figuren, der sinnlose Sinn – all das bekommt
                 für sexuelle Selektion nun Sinn. Klassiker sind Männer, weil Frauen bei ihrer
                 sexuellen Selektion Männer bevorzugen, die sich solche teuren Signale leisten
                 können und damit – neben ihrer meist ungewöhnlichen Begabung – ihre über-
                 durchschnittliche Leistungsfähigkeit beweisen.

                          3. Klassiker im Kontext der kulturellen Evolution


                 Im Mittelpunkt der natürlichen Selektion steht der Rezipient des klassischen
                 Kulturguts; im Mittelpunkt der sexuellen Selektion steht die Person des Klas-
                 sikers (qua Phän); im Mittelpunkt der dritten Selektionsebene, die wir jetzt
                 beobachten wollen, die der kulturellen Evolution, befindet sich das Werk, das
                 Opus. Durch alle drei Selektionsebenen zieht sich aber ein gemeinsamer evolu-
                 tionärer Imperativ, dem alle unterschiedlichen Selektionseinheiten unterworfen
                 sind: Tu alles, um dich zu erhalten, dein Weiterleben zu optimieren, dich zu
                 replizieren! Natürliche Selektion prämiert jeden Nutzen, der das Weiterleben
                 des Phäns optimiert; sexuelle Selektion optimiert die Replikationswahrschein-
                 lichkeit der Gene, und die kulturelle Selektion prämiert das Kopieren (und
                 Imitieren) der Meme.
                    Meme werden hier jene Selektionseinheiten der kulturellen Evolution ge-
                 nannt, die durch Imitation oder Lernen kopiert und damit repliziert, mit an-
                 deren Worten: die tradiert werden können.  Seit der Mensch ein inneres (gei-
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                 stiges) Vorstellungsvermögen besitzt, er Sprache evolutionär entwickelt hat und
                 ihm durch die zerebrale Akzeleration ein leistungsfähiger Speicher und Rechner
                 – nämlich das Gehirn – zur Verfügung steht, kann er Meme weitergeben – hori-
                 zontal durch Interaktion mit (körperlich) Anwesenden und/oder vertikal durch
                 Kommunikation mit (körperlich) nicht Anwesenden – etwa Menschen, die zu
                 anderen Zeiten leb(t)en. Die Formen dieser Weitergabe und ihrer materiellen
                 Träger sind sehr unterschiedlich, aber gemeinsam ist allen, dass ihre Inhalte


                 30  Vgl. Blackmore, Die Macht der Meme (wie Anm. 22); Treml, Evolutionäre Pädagogik (wie
                    Anm. 8), 176ff.
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