Page 157 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹? 155
Wenn die Kognitions- und Lernpsychologen Recht haben mit ihrem Hin-
weis (und nichts spricht bisher dagegen), dass es zwischen Frauen und Männern
– im statistischen Durchschnitt – keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich
ihrer kognitiven Intelligenzleistungen gibt, dann ist dieser Unterschied erklä-
rungsbedürftig. Warum sind Klassiker Männer – und nicht Frauen? 26
Eine Antwort gibt die Theorie der sexuellen Selektion, die im Rahmen
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der Evolutionären Psychologie, der Soziobiologie und der allgemeinen Evoluti-
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onstheorie seit einigen Jahren diskutiert wird. Männer lösen durch eine hohe
und riskante körperliche und kulturelle Produktivität das Grundproblem der
sexuellen Selektion, nämlich unter Bedingungen der männlichen Mitkonkur-
renz, eine positive weibliche Selektion wahrscheinlich zu machen. Frauen, die
erheblich mehr in Schwangerschaft und Geburt als Männer investieren müssen,
stehen bei der sexuellen Selektion der künftigen Väter ihrer Kinder nämlich vor
dem Problem, »gute Gene« zu erkennen (um daran ihre Wahl zu orientieren).
Eine direkte Beobachtung »guter Gene« ist nicht möglich, also weichen Frau-
en auf indirekte Indikatoren aus: z. B. auf beobachtbare überdurchschnittliche
Leistungsfähigkeit. Kulturproduzenten sind, so die Hypothese, Männer, weil
Frauen (über Jahrmillionen) bei ihrer Wahl Männer bevorzug(t)en, die über-
durchschnittlich gut bei der Produktion von Kulturgütern waren bzw. sind.
Und Klassiker sind ausgezeichnete Kulturproduzenten, also Männer.
Sollte diese Vermutung richtig sein, würde sie nebenbei auch erklären,
warum die Werke der Klassiker überdurchschnittlich umfangreich, komplex,
tiefsinnig und schwer verständlich sind. Man kann diese Form der Kulturpro-
duktion als eine Art ›teurer Signale‹ interpretieren und im Rahmen einer soge-
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nannten Handicap-Theorie erklären. Freiwillig eingegangene Handicaps – wie
z. B. langjährige Studien, Verzicht auf Kindheit, auf Jugend, auf ein bürgerli-
ches Familienleben, extremer Lern- und Arbeitsfleiß, schwer (oder gar nicht?)
26 Die Beobachter sind (dementsprechend) überwiegend Frauen: »Es gehen in der Regel
mehr Frauen in die kulturellen Veranstaltungen. Da müssen wir uns nichts vormachen.
Die Männer werden höchstens mitgezogen.« (Interview mit einem Theaterintendanten, in:
Kulturblatt für Bergedorf und Umgebung 2007, 4).
27 Das schließt natürlich nicht aus, dass es auch andere Versuche gibt, diese geschlechtsspezifi-
sche Asymmetrie zu erklären (etwa die feministische). Wie immer macht Wissenschaft auch
hier ihre Ergebnisse abhängig von ihren (theoretischen) Voraussetzungen und kann deshalb
keine absoluten (sondern nur relative, nämlich darauf bezogene) »Wahrheiten« anbieten.
28 David M. Buss, Evolutionäre Psychologie, München 2004, 149ff.
29 Vgl. Amotz und Avishag Zahevi, Signale der Verständigung. Das Handicap-Prinzip, Frank-
furt am Main; Leipzig 1988.