Page 156 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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154 Alfred K. Treml
Beobachtung jene Signale erkannt werden können, die im Rahmen der se-
xuellen Selektion eine wichtige Funktion erfüllen. Sollten Klassiker eine sol-
che Funktion im Rahmen der sexuellen Selektion haben, müsste das jedoch
an empirischen Daten wenigstens indirekt nachweisbar sein. Es müssten also
z. B. Klassiker oder ihre Rezipienten auf lange Sicht einen Vorteil bei der ge-
netischen Replikation haben (also mehr Nachkommen), oder es müssten deut-
liche geschlechtsspezifische Unterschiede erkennbar sein. Zumindest was die
letztgenannte Prämisse betrifft, lassen sich harte Daten relativ einfach vorfin-
den: Auffällig ist, dass Klassiker überwiegend, und zwar signifikant auffällig,
männlich sind. Angefangen von Imhotep über Sokrates, Platon, Aristoteles bis
hin zu Leibniz, Kant und Wittgenstein – um nur ein paar Namen zu nennen,
sind philosophische Klassiker männlichen Geschlechts. Das Nämliche gilt für
musikalische und literarische Klassiker, wie Händel, Bach, Mozart, Hindemith
oder Schiller, Goethe oder Franz Werfel u. v. a. m.
Ich vermute sogar, dass diese merkwürdige Asymmetrie eine kulturinva-
riante Universalie ist (zumindest habe ich aus der kulturvergleichenden For-
schung bislang keine gegenteiligen Informationen bekommen). Für diese Ver-
mutung spricht indirekt die Tatsache, dass alle Kulturproduzenten, die nicht
nur selektiert, sondern in der Form stabilisiert wurden, dass sie den Weg in
Lehrbücher und Lexika geschafft haben, weit überwiegend männlich sind. Eine
Untersuchung z. B. des Bertelsmann Volkslexikons ergab, dass 85,5% der dort
genannten Personen (Dichter, Denker, Philosophen, Wissenschaftler, Erfinder,
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Entdecker u. a.) männlich und nur 14,5% weiblich sind. Wenn man Klassi-
ker als hervorgehobene, ausgezeichnete Kulturträger interpretiert, die muster-
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gültige Spitzenleistungen erbracht haben und aus diesem Kreis eine schmale
Elite bilden, dann dürfte sich meines Erachtens das Verhältnis noch mehr zu-
ungunsten des weiblichen Anteils verschieben. Kurzum: Kulturproduzenten,
vor allem aber Klassiker als ausgezeichnete Kulturträger – sind (und das fast
ausschließlich) Männer.
24 Mit Bezug auf Bertelsmann Universallexikon, Das Wissen unserer Zeit von A-Z. Über
70.000 Stichworte. Gütersloh; München 2001. Insgesamt 1.019 Textseiten. Untersucht
wurden die Buchstaben A bis D, d. h. 203 Seiten, entsprechend 20%. Das Ergebnis: 765
Einträge sind ›männlich‹, entsprechend 85,5%. Dem stehen 130 frauenbezogene Einträge
gegenüber, das entspricht 14,5%.
25 »Als Klassiker kann jeder Autor und Künstler bezeichnet werden, dessen Werk zu den
Gipfelleistungen seiner Art gehört.« ([Artikel] Klassische (das), in: Historisches Wörterbuch
der Philosophie, 13 Bde., hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1971-2007,
Bd. 4 (1976), 853).