Page 156 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 Beobachtung  jene  Signale  erkannt  werden  können,  die  im  Rahmen  der  se-
                 xuellen Selektion eine wichtige Funktion erfüllen. Sollten Klassiker eine sol-
                 che Funktion im Rahmen der sexuellen Selektion haben, müsste das jedoch
                 an empirischen Daten wenigstens indirekt nachweisbar sein. Es müssten also
                 z. B. Klassiker oder ihre Rezipienten auf lange Sicht einen Vorteil bei der ge-
                 netischen Replikation haben (also mehr Nachkommen), oder es müssten deut-
                 liche geschlechtsspezifische Unterschiede erkennbar sein. Zumindest was die
                 letztgenannte Prämisse betrifft, lassen sich harte Daten relativ einfach vorfin-
                 den: Auffällig ist, dass Klassiker überwiegend, und zwar signifikant auffällig,
                 männlich sind. Angefangen von Imhotep über Sokrates, Platon, Aristoteles bis
                 hin zu Leibniz, Kant und Wittgenstein – um nur ein paar Namen zu nennen,
                 sind philosophische Klassiker männlichen Geschlechts. Das Nämliche gilt für
                 musikalische und literarische Klassiker, wie Händel, Bach, Mozart, Hindemith
                 oder Schiller, Goethe oder Franz Werfel  u. v. a. m.
                    Ich vermute sogar, dass diese merkwürdige Asymmetrie eine kulturinva-
                 riante Universalie ist (zumindest habe ich aus der kulturvergleichenden For-
                 schung bislang keine gegenteiligen Informationen bekommen). Für diese Ver-
                 mutung spricht indirekt die Tatsache, dass alle Kulturproduzenten, die nicht
                 nur selektiert, sondern in der Form stabilisiert wurden, dass sie den Weg in
                 Lehrbücher und Lexika geschafft haben, weit überwiegend männlich sind. Eine
                 Untersuchung z. B. des Bertelsmann Volkslexikons ergab, dass 85,5% der dort
                 genannten Personen (Dichter, Denker, Philosophen, Wissenschaftler, Erfinder,
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                 Entdecker u. a.) männlich und nur 14,5% weiblich sind.  Wenn man Klassi-
                 ker als hervorgehobene, ausgezeichnete Kulturträger interpretiert, die muster-
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                 gültige Spitzenleistungen erbracht haben  und aus diesem Kreis eine schmale
                 Elite bilden, dann dürfte sich meines Erachtens das Verhältnis noch mehr zu-
                 ungunsten des weiblichen Anteils verschieben. Kurzum: Kulturproduzenten,
                 vor allem aber Klassiker als ausgezeichnete Kulturträger – sind (und das fast
                 ausschließlich) Männer.


                 24  Mit  Bezug  auf  Bertelsmann  Universallexikon,  Das  Wissen  unserer  Zeit  von  A-Z.  Über
                    70.000  Stichworte.  Gütersloh;  München  2001.  Insgesamt  1.019 Textseiten.  Untersucht
                    wurden die Buchstaben A bis D, d. h. 203 Seiten, entsprechend 20%. Das Ergebnis: 765
                    Einträge sind ›männlich‹, entsprechend 85,5%. Dem stehen 130 frauenbezogene Einträge
                    gegenüber, das entspricht 14,5%.
                 25  »Als Klassiker kann jeder Autor und Künstler bezeichnet werden, dessen Werk zu den
                    Gipfelleistungen seiner Art gehört.« ([Artikel] Klassische (das), in: Historisches Wörterbuch
                    der Philosophie, 13 Bde., hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1971-2007,
                    Bd. 4 (1976), 853).
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