Page 155 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹?  153

               wie Mozart, Schubert oder Schiller, häufig auch relativ alt wie Comenius, Bach
               oder Goethe); ihre Lebenszeit ist eng begrenzt; sie sind sterblich wie alle Men-
               schen.  Ihr Werk  jedoch  ist  unter  Umständen  »unsterblich«,  »ewig«  (so  eine
               häufig verwendete euphemistische Semantik). Deshalb finden wir gelegentlich
               Tagungsankündigungen der Art »Kant lebt!« Vor kurzem las ich den schönen
               Satz: »Schiller, vor über 200 Jahren gestorben, lebt!«
                   Weil die Herausbildung klassischer Nobilitierung – qua evolutionärer Sta-
               bilisierung – viel Zeit benötigt, sind Klassiker normalerweise (als Phäne) schon
               lange tot, während ihr Werk, ihre Meme, quasi weiterleben. Deshalb hat man
               Klassiker gelegentlich auch als dasjenige bezeichnet, »was nicht totzukriegen«
               sei. Durch was aber »leben« Klassiker »fort«? Klassiker leben in und durch die
               Resonanz, die sie durch ihr Werk auslösen. Sie werden gelesen, zitiert, ihre Wer-
               ke immer wieder erneut aufgelegt. Es wird über sie kommuniziert, diskutiert;
               ihre musikalischen Hervorbringungen werden gehört und ihre dramatischen
               Werke auf der Bühne aufgeführt usw. Wie eine Saite, die nachklingt, wenn ihre
               Schwingungszahl in der Ferne angezupft wird, so ist es auch mit der Resonanz
               der  Rezipienten,  der  Liebhaber,  der  Leser  (kanonischer  Bücher)  und  Hörer
               (klassischer Musik) oder der Theaterbesucher, in denen das Werk eines Klas-
               sikers weiterlebt. Oder, um ein Gleichnisbild von Gottfried Wilhelm Leibniz
               aufzurufen: Wie eine Fackel, die herumgeschwungen wird, wird die Flamme
               erhalten und leuchtet hell auf. So sind Klassiker eine Art Fackel, die von Gene-
               ration zu Generation weitergegeben werden. Das gilt auch für wissenschaftliche
               Klassiker und deshalb sind sie die ungekrönten Könige der Fußnoten und Zi-
               tate. Kurzum: Klassiker leben in und durch Aufmerksamkeitsbindung. Sie pro-
               duzieren psychische oder kommunikative Erregung und wirken in und durch
               diese Resonanz noch lange nach ihrem biologischen Tod weiter.
                   Am Anfang ist der Autor, dann das Werk (Opus, Œuvre). Aber das genügt
               noch lange nicht, um ein Klassiker zu werden. Eine weitere wesentliche Be-
               dingung dafür ist: Beobachtung. Klassiker als Phäne leben also in und durch
               Beobachtung. Sie wollen (zumindest primär) nicht belehren, sondern beob-
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               achtet werden.  Aber warum? Eine Antwort könnte lauten: Weil nur durch

               23  Das gilt wohl für alle Autoren: »Man publiziert – nicht um zu belehren, sondern um be-
                   obachtet zu werden.« (Luhmann 1992, 83). Dort wo Klassiker belehren sollen – etwa im
                   Schulunterricht – wird es problematisch (vgl. Treml, Klassiker [wie Anm. 11], 154ff.). Das
                   mag vielleicht daran liegen, dass man die Klassiker nicht durch potestas, sondern nur durch
                   auctoritas schätzen lernen kann, jeder Lehrer aber unvermeidbar (auch) auctoritas (qua
                   Amtsgewalt) in Anspruch nimmt.
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