Page 152 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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150 Alfred K. Treml
Unwahrscheinliche (nämlich gemeinsame Sinnaktualisierung) wahrscheinlich
zu machen, wird es – wie dies schon in der etymologischen Bedeutung mit-
schwingt – als Maßstab, Richtschnur, Norm des Vorzüglichen und Musterhaf-
ten nobilitiert.
Vor allem dort, wo Sinn über verba im weiteren Sinne und nicht über res,
also über Sprache und nicht über die Dinge, transportiert wird, ist der Bedarf
nach sinnhaften Kontingenzunterbrechern hoch. Dagegen scheint eine Kom-
munikation über res sich durch den Widerstand der Welt stoppen zu lassen und
findet darin ihre Kontingenzunterbrechungen, so dass kumulative Erkenntnisse
ermöglicht werden. Ich vermute, dass dies der Grund dafür ist, dass es vor allem
in den Geisteswissenschaften, in Musik und Kunst, Klassiker gibt und nicht
oder weniger in den Naturwissenschaften. Auch die Tatsache, dass Klassiker
keineswegs für alle Menschen von gleicher Bedeutung sind, sondern vor allem
in und für eine Schicht relevant sind, die wir gewöhnlich Bildungsbürgertum
nennen, lässt sich so einleuchtend erklären: Diese Gruppe hat es vor allem durch
ihre überdurchschnittliche Rezeption von kommunikativem Sinn mit dem Pro-
blem zu tun, den unendlichen Sinnzusammenhang zu reduzieren, ohne ihn zu
vernichten. Wer nicht liest, hat dieses Problem nicht (oder zumindest weniger
und deshalb reicht für ihn möglicherweise die Bild-Zeitung).
Klassiker bedienen also die Funktion der Komplexitätsreduktion in An-
betracht einer Überlastung durch Sinn (und dazu gibt es natürlich eine ganze
Reihe funktionaler Äquivalente). Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.
Klassiker reduzieren wohl die Komplexität des Und-immer-so-weiter der Sinn-
produktion, und das leisten sie vor allem durch eine personale Attributierung.
Es ist vor allem diese Zurechnung zu einer Person (des Klassikers), die als eine
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Art historische »Rückwärtskreation« Komplexität reduziert. Andererseits geht
es aber auch darum, Kommunikation zu erhalten und die sinnhaften Verwei-
sungen in eine unendliche Welt zu ermöglichen und zu kanalisieren. Es sind
unsere Klassiker, die durch ihre Werke zur Fortsetzung des Gesprächs anregen
und damit die Komplexität wieder vergrößern. Das Werk muss so komplex
sein, dass es einen Überschuss an Verweisungen offeriert, auf den die daran
17 Luhmann, Gesellschaftsstruktur (wie Anm. 15), 35.
18 In Anlehnung an Luhmann, der in diesem Zusammenhang von einer »Rückwärtskreation«
spricht und »Klassiker« als »durch Personifizierung geraffte und verkürzte Vergangenheiten«
bezeichnet (vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissens-
soziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, 258).