Page 152 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 Unwahrscheinliche (nämlich gemeinsame Sinnaktualisierung) wahrscheinlich
                 zu machen, wird es – wie dies schon in der etymologischen Bedeutung mit-
                 schwingt – als Maßstab, Richtschnur, Norm des Vorzüglichen und Musterhaf-
                 ten nobilitiert.
                    Vor allem dort, wo Sinn über verba im weiteren Sinne und nicht über res,
                 also über Sprache und nicht über die Dinge, transportiert wird, ist der Bedarf
                 nach sinnhaften Kontingenzunterbrechern hoch. Dagegen scheint eine Kom-
                 munikation über res sich durch den Widerstand der Welt stoppen zu lassen und
                 findet darin ihre Kontingenzunterbrechungen, so dass kumulative Erkenntnisse
                 ermöglicht werden. Ich vermute, dass dies der Grund dafür ist, dass es vor allem
                 in den Geisteswissenschaften, in Musik und Kunst, Klassiker gibt und nicht
                 oder weniger in den Naturwissenschaften. Auch die Tatsache, dass Klassiker
                 keineswegs für alle Menschen von gleicher Bedeutung sind, sondern vor allem
                 in und für eine Schicht relevant sind, die wir gewöhnlich Bildungsbürgertum
                 nennen, lässt sich so einleuchtend erklären: Diese Gruppe hat es vor allem durch
                 ihre überdurchschnittliche Rezeption von kommunikativem Sinn mit dem Pro-
                 blem zu tun, den unendlichen Sinnzusammenhang zu reduzieren, ohne ihn zu
                 vernichten. Wer nicht liest, hat dieses Problem nicht (oder zumindest weniger
                 und deshalb reicht für ihn möglicherweise die Bild-Zeitung).
                    Klassiker bedienen also die Funktion der Komplexitätsreduktion in An-
                 betracht einer Überlastung durch Sinn (und dazu gibt es natürlich eine ganze
                 Reihe funktionaler Äquivalente). Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.
                 Klassiker reduzieren wohl die Komplexität des Und-immer-so-weiter der Sinn-
                 produktion, und das leisten sie vor allem durch eine personale Attributierung.
                 Es ist vor allem diese Zurechnung zu einer Person (des Klassikers), die als eine
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                 Art historische »Rückwärtskreation« Komplexität reduziert.  Andererseits geht
                 es aber auch darum, Kommunikation zu erhalten und die sinnhaften Verwei-
                 sungen in eine unendliche Welt zu ermöglichen und zu kanalisieren. Es sind
                 unsere Klassiker, die durch ihre Werke zur Fortsetzung des Gesprächs anregen
                 und damit die Komplexität wieder vergrößern. Das Werk muss so komplex
                 sein, dass es einen Überschuss an Verweisungen offeriert, auf den die daran



                 17  Luhmann, Gesellschaftsstruktur (wie Anm. 15), 35.
                 18  In Anlehnung an Luhmann, der in diesem Zusammenhang von einer »Rückwärtskreation«
                    spricht und »Klassiker« als »durch Personifizierung geraffte und verkürzte Vergangenheiten«
                    bezeichnet (vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissens-
                    soziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, 258).
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