Page 154 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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152 Alfred K. Treml
Klassisch gewordene Autoren haben ihre Werke nicht deshalb geschrieben, um
reich zu werden oder Karriere zu machen. Und wenn doch, dann waren die damit
verbundenen Hoffnungen – wie viele Lebensschicksale beweisen – illusionär.
Möglicherweise wird hier jedoch eine andere, weitere Funktion bedient,
die bisher systematisch übersehen wurde. Prüfen wir deshalb, ob nicht mögli-
cherweise auch die »sexuelle Selektion« eine Rolle spielt.
2. Klassiker im Kontext der sexuellen Selektion
Der Zusammenhang zur sexuellen Selektion scheint, zumindest auf den ersten
Blick, abwegig. Bevor man hier abwinkt, sollte man sich jedoch zunächst vor
Augen halten, dass die Evolution ihre Funktionen nicht unbedingt über bewuss-
te Motive ausbildet, sondern sich in der Regel stabilisierter Problemlösungen
bedient, die latent wirken und den agierenden Subjekten deshalb unbekannt
bleiben. Man kann sie wie eine Als-ob-Wirkung erklären: Wir Menschen han-
deln – in großer Zahl und auf lange Sicht – so, als ob wir uns dabei eines
Kosten-Nutzen-Kalküls unterwürfen und das heißt: als ob es uns im Rahmen
der natürlichen oder der sexuellen Selektion nützte.
Dabei rückt nun der Klassiker als Person in den Vordergrund und damit
auch die Unterscheidung von Autor und Werk. Die Person des Klassikers wird
dort, wo sie als Selektionseinheit betrachtet wird, als »Phän« bezeichnet; ihr
materielles Substrat ist der Körper, ihr geistiges Repertoire der Geist. Davon
muss man das Werk, das Opus, unterscheiden, das als Produkt des Autors
21
dort, wo es als eigenständige Selektionseinheit im Rahmen der allgemeinen
Evolutionstheorie behandelt wird, im Folgenden als »Mem« bezeichnet und
interpretiert wird. 22
Dass Phäne und Meme unterschiedliche Selektionseinheiten sind, zeigt
sich vor allem an ihrer sehr unterschiedlichen »Lebensdauer«. Klassiker als Phä-
ne sterben wie alle Menschen am Ende ihres Lebens (häufig noch sehr jung
21 Dass die Vorstellung (eines inneren Bildes) als geistiger Akt eng mit der Herstellung (eines
Werks) zusammenhängt (das Eine das Andere voraussetzt) – und dies ein anthropologisches
Obligat ist, ist seit dem grundlegenden Aufsatz von Hans Jonas Die Freiheit des Bildens:
Homo pictor und die differentia des Menschen (1996) in der philosophischen Anthropologie
ein gängiger Topos.
22 Zur Memtheorie vgl. Susan Blackmore, Die Macht der Meme oder Die Evolution von Kultur
und Geist, Heidelberg; Berlin 2000.