Page 147 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹? 145
lutionstheoretische und uns vertrauter, weil wir sie auch im Nahbereich des
menschlichen Handelns als Handlungstheorie gebrauchen. Aber jeder Versuch,
die Herausbildung von Klassikern schöpfungstheoretisch durch Poiesis, durch
»Herstellung« zu erklären, kommt schnell in erhebliche theorietechnische Pro-
bleme. Schon die Frage, wer eigentlich dabei das Subjekt bzw. das Agens ist (der
»Schöpfer«) und woher es seine (kausale) Wirkmacht nimmt, um den Prozess
der Herstellung kausal zu determinieren, ist sehr schwer zu beantworten. Na-
heliegend ist es, in unserem Zusammenhang dem Autor die Bildung und die
Macht des Agens zu attachieren. 5
Nun ist die Produktion von Werken wohl eine notwendige, aber keines-
wegs auch eine hinreichende Bedingung, um Klassiker zu werden. Wer ein
Buch schreibt, ist zunächst einmal nur ein Autor. Um Klassiker zu werden, be-
darf es mehr. Deshalb ist eine rein schöpfungstheoretische Erklärung hier nicht
ausreichend. Jede schöpfungstheoretische Erklärung des Klassiker-Phänomens
kommt schnell in die Schwierigkeit, einerseits ein kausales Bewirken einer Wir-
kung durch ein Subjekt (agens) annehmen zu müssen, aber nicht erklären zu
können, wer die Klassiker »macht«, warum und wie sie »gemacht« werden. Die-
se Aporie partizipiert an der allgemeinen Schwäche einer Handlungstheorie,
die vielfach beschrieben worden ist. Es lohnt sich deshalb, einmal – und wenn
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auch nur versuchsweise – eine andere Erklärungsart auf ihre Leistungsfähigkeit
zu überprüfen und auf diesen besonderen Fall der Erklärung von Klassikern
5 Offenbar ist der Handlungsbegriff vor allem eine komplexitätsreduzierende Zuschrei-
bung und erst in zweiter Linie (wenn überhaupt) eine Beschreibung. Weil ›Herstellung‹
zunächst mit dem Wissen des Zieles beginnt und die Verwirklichung dieser Vorstellung
seine Ermöglichung voraussetzt, wäre es wohl in erster Linie (philosophische?) Bildung
und (politische?) Macht, die hier benötigt würden. Ein Blick in die Geschichte zeigt
jedoch, dass einmal der Akzent auf Macht und das andere Mal auf Bildung lag, und
schon Platon erfuhr (in seiner versuchten Politikberatung von Tyrannen) schmerzlich,
dass die ›Herstellung‹ von Vernunft regelmäßig daran zu scheitern pflegt, dass entweder
die Macht keine Bildung oder die Bildung keine Macht besitzt. Viele Philosophen ha-
ben sich deshalb zwischen folgenlosem Protest und stiller Resignation im Namen der
Bildung häuslich in den Machtnischen eingerichtet und – wie es Rousseau einmal im
Émile ausdrückte – sich darauf beschränkt, »nicht Hand ans Werk, sondern an die Feder
zu legen« und anstatt zu tun, was richtig sei, sich bemüht, »es zu sagen«. Immerhin ver-
danken wir der Sublimierung dieser Entsagungshaltung große Werke der Weltliteratur
(z. B. Platons Politeia oder Rousseaus Émile, ou De l’éducation).
6 Vgl. z. B. Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von
Zwecken in sozialen Systemen, Frankfurt am Main 1973, 14ff.