Page 151 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹? 149
implizierter Verweisungen kennen und ihn bei Bedarf reaktivieren können. Je-
der »Sinn« schleppt unvermeidbar diesen Verweisungshorizont mit und nur mit
und durch ihn können wir »verstehen«. 16
Schon auf dieser basalen Ebene impliziert Sinn einen unendlichen Ver-
weisungshorizont, der immer nur selektiv angezapft für weitere Kommuni-
kation anschlussfähig gemacht werden kann. Damit hat Sinn eine geradezu
evolutionäre Logik: Jede sinnhafte Äußerung kann als eine Art Variationsoffer-
te interpretiert werden, die andere selektiv aufgreifen und durch selektive An-
schlussoperationen in den Verweisungshorizont hinein fortgesetzt werden und
gegebenenfalls entlang eines Themas, eines Topos’, stabilisiert werden kann. Im
Unterschied zur biologischen Evolution arbeitet Sinn allerdings ohne irrever-
sible negative Selektionen. Was wir im Augenblick ausschließen, können wir
im nächsten wieder reaktivieren. Dazu kommt, dass in dem Maße wie durch
die soziokulturelle Evolution die Produktion geistiger Inhalte anwächst, auch
dieser Verweisungshorizont zunimmt und tatsächlich ins Unendliche geht, so
dass man sagen kann: »Sinn hält andeutungsweise die ganze Welt zugänglich«.
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Gerade das aber wird zwangsläufig als Überlastung erfahren und zwingt zu per-
manenten rigiden Selektionen. Der ausgeschlossene Bereich kann wohl immer
wieder, aber immer nur nacheinander und hochselektiv aktualisiert werden, die
Auswahl bleibt kontingent. Weil sein Gebrauch kontingent ist, bedarf es der
Verdichtung von Sinn, der Kontingenzunterbrecher, an denen man die völ-
lige Beliebigkeit vermeiden kann. Es ist jetzt wohl alles möglich, aber nicht
gleichzeitig und nicht willkürlich, weil alles Mögliche nur über ganz Bestimm-
tes (etwa einen bestimmten Anfang) zugänglich wird. Die hohe Kontingenz
der Sinnproduktion bedarf der Markierungen, an denen soziale Systeme sich
orientieren und ihre Kommunikation verdichten und synchronisieren können.
Es gibt deshalb einen Bedarf an »Klumpenbildungen« (Luhmann), also an ein-
flussreichen semantischen Topoi, mit denen man beginnen und auf die man
immer wieder zurückkehren und so die weitere Kommunikation strukturieren
kann.
Klassische Kanons sind in Anbetracht dessen, dass sich ständig etwas än-
dert und die Fortsetzung der aktualisierten und sofort wieder verschwindenden
Sinnproduktion kontingent ist, das Bleibende, an dem man das viele Neue
nicht-kontingent erträglich abarbeiten kann. Um das an und für sich völlig
16 »Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn« heißt es bei Goethe (Goethes Werke
[wie Anm. 14], Bd. 12 [1989], 528; »Maximen und Reflexionen«, Hecker-Nr. 9).