Page 150 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 150

148                       Alfred K. Treml

                 als ein Selektionsprinzip verstanden, das nicht nur dem ›Überleben‹ (der Gene),
                 sondern auch dem ›guten Leben‹ eines Individuums nützt, also dessen Leben
                 nicht nur schützt und bewahrt, sondern seine Ausgestaltung auch vereinfacht
                 oder anregt, anreichert und optimiert. Wo bzw. wie können in diesem Sinne
                 Klassiker nützlich sein?
                    Ich lasse einmal dahingestellt, ob die Rezeption klassischer Werke einen di-
                 rekten Einfluss auf die biologische Überlebenseinheit von Phänen hat (das wäre
                 eine empirische Frage). Ich vermute nicht. Ihr ›Nutzen‹ dürfte vielmehr indi-
                 rekter Art sein und sich auf etwas beziehen, was ihre Rezeption auf Dauer stellt.
                                                14
                 Wenn man so funktionalistisch denkt,  könnte man zunächst einmal mit der
                 Vermutung beginnen, dass Klassiker etwas sind, was sich in der Ideengeschichte
                 herauskristallisiert und ein Problem löst, das sich hier stellt. Aber welches?
                    Ich vermute, dass wir eine Antwort in einer evolutionären Errungenschaft
                 suchen müssen, die sich nur beim Menschen in dieser ausgereiften und diffe-
                 renzierten Form entwickelt hat: sinnhafte Kommunikation. Alles menschliche
                 Erleben und Handeln verläuft sinnförmig; auch das Verstehen von Texten ist
                 nur sinnförmig möglich, und das heißt, dass jede Intention (die eigene und die
                 fremde) ausschließlich in der Form der Verweisung auf andere Möglichkeiten
                          15
                 gegeben ist.  Sinn – und das hat vor allem Niklas Luhmann differenziert her-
                 ausgearbeitet – ist die geistige Einheit von aktualisierter Unterscheidung und
                 Verweisung auf andere Möglichkeiten (also, wenn man so will, von actus und
                 potentia). Wir verstehen einen Satz nur, weil wir seinen latenten Überschuss






                    Ziel, die Vertretung unserer Gene im Verhältnis zu jener der Gene anderer zu maximie-
                    ren.« (David M. Buss, Evolutionspsychologie – ein neues Paradigma für die psychologische
                    Wissenschaft? In: Alexander Becker u. a. (Hg.), Gene, Meme und Gehirne. Geist und Ge-
                    sellschaft als Natur. Frankfurt am Main 2003, 137-226, hier 166f.).
                 14  Wir fragen also nach der »Funktion« – und damit nach einer evolutionär bewährten und
                    deshalb auf Dauer gestellten (d. h. stabilisierten) Problemlösung. Bei Luhmann heißt
                    es: »Der konsequente Funktionalismus macht genau dies zum methodischen Prinzip: die
                    Wirklichkeit als immer schon gelöstes Problem darzustellen und sie damit dem Vergleich
                    mit anders möglichen Problemlösungen auszusetzen.« (Luhmann, Evolution und Geschichte
                    [wie Anm. 9], 164). Dieser Funktionsbegriff, der vor allem die Zeitdimension in Anspruch
                    nimmt, ist schon von Goethe vorgedacht, wenn er einmal formuliert: »Die Funktion ist das
                    Dasein, in Tätigkeit gedacht.« (Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., hg. v. Erich
                    Trunz. Bd. 12 (1989), 371; »Maximen und Reflexionen«, Hecker-Nr. 1367).
                 15  Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziolo-
                    gie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt am Main 1980, 17f.
   145   146   147   148   149   150   151   152   153   154   155