Page 149 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹?  147

               Will man das Phänomen des Klassikers in den Horizont der allgemeinen Evolu-
               tionstheorie stellen, muss man versuchen, es in diesem Kontext zu interpretie-
                                                                           11
               ren. Das ist meines Wissens bisher systematisch noch nirgends geschehen,  so
               dass jeder diesbezügliche Versuch einer riskanten Expedition gleicht, die ohne
               vor- oder gar ausgetretene Wege auskommen muss. In der gebotenen Kürze
               kann hier auch nicht mehr geleistet werden als ein erster Überblick, der in gro-
               ben Strichen ein Forschungsprogramm skizziert und ein paar allgemeine Hypo-
               thesen zu formulieren erlaubt. Entschädigt wird man dafür möglicherweise mit
               einer Reihe überraschender Einsichten und Ausblicke.



                         1. Klassiker im Kontext der natürlichen Selektion

               Natürliche Selektion prämiert alles, was dem Individuum – hier als Selekti-
               onseinheit »Phän« genannt – nützt und damit vorteilhafte individuelle Unter-
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               schiede und Veränderungen zur Folge hat.  Ursprünglich war bei Darwin die
               natürliche Selektion auf das bloße Überleben (des Individuums) bezogen, weil
               das die basale Voraussetzung dafür ist, unter Konkurrenzdruck und angesichts
               begrenzter Ressourcen auf lange Sicht mehr Nachkommen zu haben. Diese bio-
               logische Sichtweise ist zu eng, um hier fruchtbar gemacht werden zu können,
               zumal sie nicht zwischen proximaten Ursachen und ultimaten Zwecken (die
               damit erreicht werden) unterscheidet. Die evolutionär erst einmal stabilisierten
               proximaten Wirkkräfte werden auch dann aktiv, wenn die proximaten Zwecke
               nicht erreicht werden. Ein einfaches Beispiel dafür: Auch der Kinderlose, der
               selbst keine Nachkommen hat, wird, wenn er krank wird, selbstverständlich
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               zum Arzt gehen.  Natürliche Selektion wird hier also in einem weiteren Sinne


               11  Ein erster, mehr essayistischer als systematischer Versuch liegt vor mit Alfred K. Treml:
                   Klassiker. Die Evolution einflußreicher Semantik. Bd. 1: Theorie. St. Augustin 1997,
                   Bd. 2: Einzelstudien. St. Augustin 1999.
               12  Vgl. Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Übs. v. Carl
                   W. Neumann [zuerst 1921], Stuttgart 1963, 120-188 (4. Kapitel).
               13  Mit anderen Worten: »[Die] Anpassungsleistungen werden in Echtzeit in der gegen-
                   wärtigen Umwelt ausgeführt, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie gegenwärtig zu
                   größerer Fitneß oder zu Fortpflanzungserfolgen führen. Menschen sind lebende Fossili-
                   en – Ansammlungen von Mechanismen, die durch den Selektionsdruck hervorgebracht
                   worden sind, der auf eine lange und ununterbrochene Reihe von Vorfahren gewirkt hat.
                   Heute aktivieren wir diese spezifischen Mechanismen und führen sie aus, doch wir folgen
                   dabei weder bewußt noch unbewußt dem auf beliebige Verhaltensgebiete übertragbaren
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