Page 148 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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heranzuziehen. Im Folgenden will ich das Phänomen der Klassiker in den Kon-
text der Evolutionstheorie stellen.
Eine evolutionstheoretische Argumentation muss sich zunächst eines nahe
liegenden Missverständnisses erwehren: die des biologistischen Reduktionis-
mus. Die Evolutionstheorie wurde wohl zunächst im Bereich der Biologie
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entwickelt, aber schon bei Darwin finden sich viele Hinweise darauf, dass sei-
ne Theorie (Darwin spricht immer nur von »meiner Theorie«) mehr als eine
biologistische Sicht auf die Dinge impliziert. Dort wo der engere biologische
(Entstehungs-)Rahmen verlassen wird, sprechen wir inzwischen von einem
»universellen Darwinismus« oder von einer »allgemeinen Evolutionstheorie«.
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In ihr werden die Prinzipien der Evolution (Variation, Selektion, Replikation
bzw. Stabilisierung) auf verschiedenen Selektionsebenen erforscht und dement-
sprechend auch unterschiedlichste Selektionseinheiten entdeckt:
Statt als einheitlicher Kausalprozess ist Evolution zu begreifen als eine Form der Verände-
rungen von Systemen, die darin besteht, dass Funktionen der Variation, der Selektion und
der Stabilisierung differenziert, das heißt durch verschiedene Mechanismen wahrgenom-
men, und dann wieder kombiniert werden. 9
Es ist üblich, in der allgemeinen Evolutionstheorie drei Selektionsebenen mit je
unterschiedlichen Selektionseinheiten zu unterscheiden: die natürliche Selekti-
on mit der Selektionseinheit Phäne (Individuen), die sexuelle Selektion mit der
Selektionseinheit Gene und die kulturelle Selektion mit der Selektionseinheit
Meme (lern- und tradierbare zerebrale Inhalte): 10
Selektionsebene Selektionseinheit
natürliche Selektion Phäne
sexuelle Selektion Gene
kulturelle Selektion Meme
7 Genauer gesagt: einer Naturforschung, die unsere gebräuchliche disziplinäre Trennung
unterläuft. Bei Darwin waren es (bei seiner Weltreise mit der Beagle) vor allem geologi-
sche Studien, die ihn auf den Gedanken der Evolution brachten.
8 Vgl. Alfred K. Treml, Evolutionäre Pädagogik. Eine Einführung. Stuttgart 2004, 63ff.
9 Niklas Luhmann, Evolution und Geschichte. In: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur
Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, 150.
10 Vgl. Treml, Evolutionäre Pädagogik (wie Anm. 8), 148ff.