Page 146 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 zielt auf die kausale, meist technische Herstellung eines Gegenstandes. Eine
                 poietische, bildende Tätigkeit »hat das Bilden, Machen, Verfertigen eines Wer-
                                                                               3
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                 kes zum Ziele«.  Der »Seinsgrund« des Hergestellten liegt »im Schaffenden«.
                 Praxis dagegen hat seinen Sinn bzw. sein Ziel in sich selbst, etwa in Form eines
                 verständigungsorientierten Diskurses. Sie bedarf nur eines gemeinsam geteilten
                 Sinns, um verstanden zu werden. Dagegen wird mit dem Begriff des Herstellens
                 deutlich auf ein dahinterstehendes Agens verweisen, das in Form einer Hand-
                 lung etwas herstellt, etwas kausal bewirkt. Will man Klassiker poietisch erklä-
                 ren, muss man ein Agens und eine kausale Wirkkraft annehmen. Ich nenne
                 dies die schöpfungstheoretische Variante einer Erklärung von Klassikern, denn
                 vor dem Herstellungsprozess wird ein Schöpfer unterstellt, der aus dem, was
                 möglich ist, zunächst durch Antizipation selektiv auswählt und danach handelt.
                 Man kann hier von »selection by anticipation« sprechen, weil der selektiven
                 Herstellung eine geistige Antizipation vorausgeht.
                    Dagegen wird mit dem Begriff des Herausbildens offen gelassen, wie etwas
                 entsteht und wer unter Umständen daran beteiligt war. Die Klassiker selbst wer-
                 den aber als Tatsache behandelt, die wir in der Welt vorfinden können. Sie sind
                 aus dem Bereich der Möglichkeiten durch einen Entwicklungsprozess entstan-
                 den (›herausgebildet‹). Weil dabei das Warum und das Wie offen gelassen wer-
                 den, kann man vermuten, dass es sich um eine Art Selbstorganisation handelt.
                 Weil dieser Prozess nur nachträglich – anhand seiner Konsequenzen – erkannt
                 und beschrieben werden kann, ist es vielleicht angemessen, hier – in Anlehnung
                 an einen Formulierungsvorschlag von Burrhus Skinner  – von »selection by
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                 consequences« zu sprechen. Das aber ist, wenn man es zu Ende denkt, letztlich
                 eine evolutionstheoretische Erklärung, weil die Entwicklung nicht teleologisch,
                 also bewusst und zielbezogen, verläuft, sondern teleonom, also unbewusst und
                 folgenbezogen, interpretiert werden muss.
                    Wir haben damit idealtypisch zwei Erklärungsformen gegenübergestellt,
                 hinter denen zwei ehrwürdige Theorietraditionen stehen: Schöpfungstheorie
                 und Evolutionstheorie. Die schöpfungstheoretische Logik ist älter als die evo-




                 2   Bela von Brandenstein, (Artikel) Handlung. In: Hermann Krings, Hans Michael Baum-
                    gartner, Christoph Wild (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973,
                    677-685, hier 679.
                 3   Aristoteles, Nikomachische Ethik (wie Anm. 1), 1140a.
                 4   Burrhus  Skinner,  Selection  by  consequences.  In:  Science  4507  (31.  Juli  1981),  vol.  231,
                    p. 501-504.
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