Page 145 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹? 143
Alfred K. Treml
Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹?
Über die Evolution einflussreicher Semantik
In den Einladungsschreiben und vorbereitenden Texten der Veranstaltung, die
diesem Buch zugrunde liegt, finden sich zwei Begriffe, die in einer gewissen
Spannung zueinander stehen und in deren gegenseitiger Beziehung das Thema
mit all seinen Schwierigkeiten aufgehoben ist: Herstellung und Herausbildung.
Auffällig ist, dass der Begriff der ›Herstellung‹ in Anführungszeichen gesetzt
wurde. Ähnlich wie bei der früheren »DDR«, die in westdeutschen Geschichts-
und Gemeinschaftskundebüchern immer in Anführungszeichen geschrieben
war, signalisieren die Anführungszeichen eine unterschwellige Botschaft – ge-
nauer gesagt: einen Widerspruch zwischen Objektebene und Metaebene. Auf
der Objektebene ist von »deutsch«, »demokratisch« und »Republik« die Rede,
auf der Metaebene schwingt die Frage mit: Ist das tatsächlich so? Ist der Staat
überhaupt deutsch, demokratisch und eine Republik? Auf der Objektebene
wird eine Aussage transportiert, die gleichzeitig auf der Metaebene wieder be-
zweifelt und als fragwürdig behandelt wird. So unterstellt offenbar auch der
Begriff der Herstellung die Machbarkeit von Klassikern und eines klassischen
Kanons, während die Anführungszeichen gleichzeitig skeptisch fragen: Stimmt
das überhaupt? Ist das denn möglich?
Im Gegensatz dazu wird der Begriff der ›Herausbildung‹ ohne Anführungs-
zeichen verwendet – ein Signal, dass man hier mit sich im Reinen ist, schließlich
kann nicht bezweifelt werden, dass es etwas gibt, ein Gebilde, das man »Klas-
siker« oder »Kanon« nennt. Was sich »herausgebildet« hat, gibt es, wenngleich
auch unklar bleibt, wer dabei das Agens ist und wie sich dieser Prozess des
Herausbildens vollzogen hat. Dagegen suggeriert das Wort »herstellen« unüber-
sehbar ein Agens: den Hersteller. Aber wer stellt hier Klassiker (oder Klassiker-
kanons) her? Die beiden Begriffe, die hier so sprachsensibel verwendet werden,
erinnern an eine schon von Aristoteles gebrauchte Unterscheidung, nämlich
an jene von poiesis und praxis. Poiesis, meistens als »Hervorbringen« übersetzt,
1
1 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 6. Buch, Kapitel 4-5 [1140a]. Er verweist dabei
selbst auf ältere Quellen, seine sogenannten »populären« oder exoterischen Schriften
,
(exwterikoi lÒgoi).