Page 18 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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16 Katharina Mommsen
König teilte jedoch Bielfelds Auffassung nicht und schrieb eine wohlwollende
Erwiderung, die rund drei Jahrzehnte später die Basis von De la littérature al-
lemande bildete. Die (fiktive) Anrede, mit der sie einsetzt: »Sie wundern sich,
mein Herr, daß ich nicht in Ihren Beifall über den Fortschritt einstimme, den
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nach Ihrer Meinung die deutsche Literatur täglich macht,« galt also ursprüng-
lich dem Baron Bielfeld und nicht dem Grafen Ewald Friedrich von Hertzberg,
dem königlichen Minister, der sich inkorrekter weise gegenüber Justus Möser
damit brüstete, die Abfassung der königlichen Schrift veranlasst zu haben. 11
Heute zweifelt man aufgrund des Tagebuchs von Friedrichs Kammer-
herrn und Vorleser, Marchese Girolamo Lucchesini, nicht mehr daran, dass
die Veröffentli chung von De la littérature allemande ausgelöst wurde durch ein
Streitgespräch des Königs mit zwei seiner Schwestern, der zu Besuch weilenden
verwitweten Herzogin Charlotte von Braunschweig-Wolfenbüttel und Prinzes-
sin Amalie. Lucchesinis Notizen über »Interessantes von der Tafel des Königs«
bezeugen nämlich, dass sich am 2. Oktober 1780 während der letzten »Mit-
tagstafel der Fürstinnen, die Tags darauf abreisten, ein Streit über die Literatur
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erhob« , woraufhin sich der König zur Publikation der seinerzeit unveröffent-
licht gebliebenen Erwiderung an Bielfeld entschloss. 13
10 »Vous vous étonnez, Monsieur, que je ne joigne pas ma voix à la vôtre, pour applaudir
aux progrès que fait, selon vous, journellement la Littérature allemande.« (LA 41; ebd.
79 die deutsche Übersetzung.)
11 Seine Aufgabe war nur, für den Druck und die deutsche Übersetzung zu sorgen, vgl.
LA 7. Hertzbergs Brief an Justus Möser vom 1. Juni 1782 (LA 141) ist gedruckt in: Ver-
mischte Schriften von Justus Möser. Nebst dessen Leben, hg. v. Friedrich Nicolai, Berlin;
Stettin, Bd 2 (1798), 237.
12 Vgl. LA 7 u. 141f., wo die nach dem italienischen Urtext von Fritz Bischoff übersetzte
Notiz vom 2. Oktober 1780 wiedergegeben wird: »Es wurde ziemlich viel von Litteratur
gesprochen, von der Dürftigkeit der deutschen Bühne, und der geringen Anzahl guter
italienischer Trauerspiele; von den englischen Dichtungen, von dem schwachen Ein-
druck, welchen die Lektüre der griechischen Trauerspiele macht, von dem schlechten
Geschmack der lateinischen Trauerspiele und der Vollendung des französischen Theaters
[...] Der König schloß das Gespräch mit der Bemerkung, daß er mit den Meisterwerken
der italienischen und französischen Litteratur und manchem schönen englischen Werk
zufrieden ist [...].«
13 Der Gesamtaufbau von De la littérature allemande und viele Flüchtigkeiten lassen auf
eine »sehr rasche Abfassung bzw. oberflächliche Überarbeitung« schließen (LA 10). Mit
der eiligen Herstellung stimmt auch die Tatsache überein, dass der französische Text
des Königs bis zur Fertigstellung der deutschen Übersetzung des Kriegsrats C. D. von
Dohm zurückgehalten wurde, um der größeren Wirkung willen beide zusammen Ende
November 1780 zu veröffentlichen.