Page 16 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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14 Katharina Mommsen
Das allgemeine Erstaunen hätte nicht größer sein können, als der 68-jäh-
rige König im November 1780 seine Abhandlung De la littérature allemande
veröffentlichte, die im Untertitel versprach, die Mängel der deutschen Literatur
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und auch die Mittel zu ihrer Verbesserung anzugeben, denn bis dahin hatte
er nie Interesse an der deutschen Literatur bekundet, sondern gemäß seiner
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Devise gelebt: »De langue et de cœur, je suis Français.« Dementsprechend war
die Sprache, in der er dachte, schrieb und bis zum letzten Atemzug redete,
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die französische. Deutsch redete er nur, wenn es ganz unvermeidbar war, und
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dann, das gab er selber zu, wie ein Kutscher: »Je parle comme un cocher.« Auch
hatte er, seiner eigenen Aussage zufolge, nie ein deutsches Buch gelesen. Warum
er sich dennoch plötzlich in aller Öffentlichkeit über die deutsche Sprache und
Literatur ausließ, ist nie plausibel erklärt worden. Mein Anliegen ist es, mehr
Klarheit darüber zu gewinnen, was ihn im November 1780 zu dieser Publika-
tion veranlasste, mit der er seine Inkompetenz auf dem Gebiet der deutschen
Literatur auf peinliche Weise dekuvrierte.
Aus Respekt vor dem großen König geht die Forschung nach wie vor davon
aus, dass seine »hehre Absicht«, die deutsche Literatur zu verbessern, ihn zu
dieser vorsätzlich »schonungslosen Postille« angeregt habe. »Der luzide Blick
2 De la littérature allemande; des défauts qu’on peut lui reprocher; quelles en sont les causes: et
par quel moyens on peut les corriger. Berlin (G. J. Decker, Imprimeur du Roi), 1780. Im
Folgenden wird zitiert nach: Friedrich der Große, De la littérature allemande. Franzö-
sisch-Deutsch. Mit der Möserschen Gegenschrift. Kritische Ausgabe, hg. v. Christoph
Gutknecht und Peter Kerner, Hamburg 1969 (abgekürzt LA; die oben im Haupttext in
runden Klammern angegebenen Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe).
3 Diese Devise kam bereits auf der interdisziplinären Tagung des Forschungszentrums
Europäische Aufklärung in Potsdam vom Mai 2003 zur Sprache, vgl. Klaus Weissen-
berger, Friedrich der Große und der Bruderzwist im Hause Mann, in: Geist und Macht.
Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte, hg. v. Brunhilde
Wehinger, Berlin 2005, 155 (Anm. 44).
4 Der Überlieferung nach lauteten die letzten Worte des sterbenden Königs: »La monta-
gne est passée: nous irons mieux!« Vgl. den Abschnitt Friedrichs Tod in: Anekdoten von
Friedrich dem Großen, hg. v. Arthur Schurig, Leipzig o. J., 78.
5 Vgl. sein Gespräch mit Johann Christoph Gottsched in Leipzig vom Oktober 1757: »Als
ich [Gottsched] sagte, daß die deutschen Dichter nicht Aufmunterung genug hätten,
weil der Adel und die Höfe zuviel französisch und zu wenig deutsch verstünden, [um]
alles deutsche recht zu schätzen und einzusehen, sagte er: »Das ist wahr; denn ich habe
von Jugend auf kein deutsch Buch gelesen, und ich rede es sehr schlecht (je parle com-
me un cocher), jetzo aber bin ich ein alter Kerl von 46 Jahren und habe keine Zeit mehr
dazu.«« (Gespräche Friedrichs des Großen, hg. v. Friedrich von Oppeln-Bronikowski und
Gustav Berthold Volz, Berlin 1919, 240).