Page 15 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 15

Potsdam und Weimar um 1780              13

                                     Katharina Mommsen

                              Potsdam und Weimar um 1780


                     Gedanken zur Kanonbildung anlässlich von Friedrichs II.
                                   De la littérature allemande



               Als Gästen des Potsdamer Forschungszentrums Europäische Aufklärung und
               der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften geziemt es sich
               für uns, den Manen des einzigartigen Königs zu huldigen, ohne den wir nicht
               hier versammelt wären. Gehört es doch zu den Wunderlichkeiten der Geistesge-
               schichte, dass die von Fridericus Rex geprägte preußisch-militärische Garnisons-
               stadt aufgrund seines erfolgreichen Werbens um den ›König der Philosophen‹,
               Voltaire, im Juli 1750 plötzlich zum interessantesten Ort für die europäische
               Intelligenzija wurde, so dass dieses Städtchen, in dem Voltaire erstaunlich viele
                                                   1
               Bajonette und sehr wenige Bücher vorfand,  für fast drei Jahre zum ›Zentrum
               der europäischen Aufklärung‹ wurde.
                   Bei der Kürze der für unser Thema Kanonbildung und Herstellung kulturel-
               ler Identität zur Verfügung stehenden Zeit kann hier allerdings weder von den
               Heldentaten des Königs noch von Voltaires Erinnerungen an Potsdam die Rede
               sein. Wir müssen uns auf den homme de lettres konzentrieren, der 1780 den
               Deutschen seinen eigenen Literaturkanon zur Nachahmung vor Augen stellte.




               1   Vgl. Voltaire an seine Nichte Marie Louise Denis, datiert Potsdam, den 24. Juli 1750:
                   »Me voici enfin dans Postdam [sic]. C’était sous le feu roi [...] une place d’armes et
                   point de jardin, la marche du régiment des gardes pour toute musique, des revues pour
                   tout spectacle, la liste des soldats pour bibliothèque. Aujourd’hui c’est un assez beau
                   palais; il y a des légions et des beaux esprits, du plaisir et de la gloire, de la magnificence
                   et du goût. Voilà le premier coup d’œil.« (Les Œuvres Complètes de Voltaire, vol. 95:
                   Correspondence, Genève 1970, p. 306f.) – Schon während der Reise nach Potsdam sah
                   Voltaire (wie er ebd. berichtet) preußische Soldaten (»ces belles troupes«), die ihn zu den
                   ironischen Versen inspirierten: »D’un regard étonné j’ai vu sur ces remparts / Des géants
                   court vêtus, automates de Mars, / Ces mouvements si prompts, ces démarches si fières, /
                   Ces moustaches, ces grands bonnets, / Ces habits retroussés, montrant de gros derrières,
                   / Que l’ennemi ne vit jamais.« Im Brief vom 20. März 1751 an dieselbe Adressatin be-
                   zeichnet Voltaire Potsdam als »notre couvent moitié militaire moitié littéraire« (Œuvres
                   Complètes, vol. 96, p. 152).
   10   11   12   13   14   15   16   17   18   19   20