Page 19 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Potsdam und Weimar um 1780 17
Dieser längst veralteten Postille aus der Zeit vor dem Aufblühen der deut-
schen Literatur fügte der König im Oktober/November 1780 hurtig einige Ein-
schübe hinzu, von denen bereits Gundolf vermutete, dass sie als »Ausbrüche
eines Verdrusses« anzusehen sind, »der die ganze Schrift durchsäuert und der
sicher ebenso wenig wie diese Ausfälle schon die frühe Fassung seiner Schrift
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entstellt hat.« Der umfangreichste und inhaltlich wichtigste dieser Einschübe
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war des Königs heftiger Ausfall gegen Goethe. Soweit der Forschungsstand.
Dass am 2. Oktober 1780 bei dem Literaturgespräch des Königs mit seiner
Schwester Charlotte kontroverse Meinungen über die deutsche Literatur zur
Sprache kamen, lag in der Natur der Sache und der Personen. Denn ganz im
Gegensatz zum Berliner Hof, von dem Friedrich die deutsche Sprache verbannt
hatte, kultivierte man am Braunschweiger Hof die deutsche Sprache und Lite-
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ratur seit langem. Herzog Carl I. und Herzogin Charlotte hatten ihre Kinder
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durch den Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem erziehen lassen, der sich
stark für die schöngeistige deutsche Literatur einsetzte und selber literarisch
tätig war. Nicht zufällig berief sein ehemaliger Zögling, Herzog Carl Wilhelm
Ferdinand, im Jahre 1770 Lessing an die Herzogliche Bibliothek in Wolfen-
14 Friedrich Gundolf, Friedrichs des Großen Schrift über die deutsche Literatur, hg. v. Elisa-
beth Gundolf, Zürich 1947, 15.
15 Das Pamphlet erschien anonym; auch die gleichzeitig veröffentlichte deutsche Über-
setzung trug lediglich den Vermerk »aus dem Französischen«. Doch das Geheimnis der
Verfasserschaft wurde schon am 2. Dezember 1780 gelüftet, als die offiziöse Haude und
Spenersche Zeitung die Publikation mit den Worten anzeigte: »Ihr Inhalt ist das Urteil
eines der erleuchtetsten Fürsten Deutschlands über die Sprache und Literatur dieses
Landes.« Nun wusste alle Welt, dass der Autor von De la littérature allemande der alte
Fritz selber war.
16 Unter allen Seltsamkeiten des preußischen Hofes fiel es Voltaire besonders auf, was er
seiner Nichte, Marie Louise Denis, am 29. August 1750 aus Berlin brieflich mitteilte:
»Die Sprache, die am Berliner Hofe am wenigsten gesprochen wird, ist die Deutsche.
Ich habe noch nie ein Wort Deutsch gehört.« Das Ausmaß von Voltaires Verblüffung
spiegelt sich noch in seiner bemerkenswerten Hinzufügung: »Unsere Sprache und unse-
re Literatur haben mehr Eroberungen gemacht als Karl der Große.« (Œuvres Complètes
[wie Anm. 1], vol. 95, p. 333: »La langue qu’on parle le moins à la cour c’est l’allemand;
je n’en ai pas encor entendu prononcer un mot. Nôtre langue, et nos belles lettres ont
fait plus de conquêtes que Charlemagne.«)
17 Bereits Herzogin Sophie Elisabeth zu Braunschweig und Lüneburg (1613–1676) hatte
in deutscher Sprache Gedichte und am Hof aufgeführte Libretti verfasst. Zu ihrem
literarischen Nachlass vgl. Arbeiten zur Mittleren deutschen Literatur und Sprache, hg. v.
Hans-Gert Roloff, Bd. 6: Sophie Elisabeth, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg.
Dichtungen I: Spiele, Frankfurt am Main 1980.