Page 159 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹?  157

               sinnhaft sind. Damit partizipiert die sinnhafte Weitergabe von Memen an ei-
               nem (schon erwähnten) evolutionären Grundproblem, nämlich dass es immer
               mehr Sinn gibt als selektiert werden kann.
                   Insbesondere durch die Erfindung der Schrift (vor etwa 5.000 Jahren in
               Mesopotamien und im alten Ägypten) und des Buchdrucks (vor etwa 600 Jah-
               ren in Europa) sollte sich dieses Problem verschärfen und die kulturelle Evo-
               lution beschleunigen. Ursprünglich waren Variation und Selektion durch die
               sehr kleine Anzahl der Lese- und Schreibkundigen eng miteinander verwoben.
               Nur wer lesen konnte, vermochte schriftliche Variationen selektiv zu rezipieren.
               Noch im Mittelalter war der Begriff des Klassikers unbekannt, denn alle Auto-
               ren waren zugleich Autoritäten,  und noch zu Luthers Zeiten war die schrift-
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               und lesekundige Bildungsschicht in Europa äußerst dünn. In dem Maße wie
               die Bandbreite der Variationen durch die Erfindung und Verbreitung des Buch-
               drucks zunahm, stieg die Anzahl der Autoren und publizierten Werke sowie die
               ihrer Leser exponentiell an. Weil die Lebenszeit und die sinnliche und zerebrale
               Verarbeitungskapazität dagegen nur unwesentlich stiegen, entstand in der Folge
               ein ständig zunehmender Selektionsdruck. 32
                   Wer das Buch eines Autors liest, selektiert aus einer großen Anzahl anderer
               Bücher, die er in diesem Augenblick nicht liest. Je mehr Bücher es gibt, desto
               mehr Bücher kann ein Einzelner nicht lesen. Es entsteht so etwas wie ein darwi-
               nistischer »Überlebenskampf« der Meme um ein Weiterleben, ein Wettbewerb
               um Einfluss der Ideen, ein harter Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit und
               Resonanz – und damit um das »Überleben der Meme«. Es gibt immer mehr
               Möglichkeiten als Wirklichkeiten, mehr potentia als actus, mehr Frauen oder
               Männer, als man lieben oder gar heiraten kann, mehr Manuskripte, als ge-
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               druckt werden können  – und viel mehr Bücher, als man lesen kann, mehr
               Autoren, als man je im Leben kennen lernen, mehr Melodien, als man summen
               und mehr Musik, als man je hören und mehr Lieder, als man singen kann.



               31  Vgl. Egidius Schmalzriedt, Inhumane Klassik. Vorlesung wider ein Bildungsklischee. Mün-
                   chen 1971, 22.
               32  Ein  starkes  Beispiel  für  die  Folgen  gibt  die  Entwicklung  der  europäischen  Geschichte
                   nach der Reformation und der gleichzeitigen Verbreitung des Buchdrucks. Der Wegfall
                   der päpstlichen Auctoritas im Protestantismus und der allgemeine Zugang zur nun in den
                   Volkssprachen publizierten Bibel führte zunächst zu einer Reihe »hermeneutischer Bürger-
                   kriege« (Odo Marquard). Erst mit Entstehung einer Theologie, die sich der modernen Wis-
                   senschaft öffnete, gelang es, den Selektionsdruck zu rationalisieren (und zu privatisieren).
               33  Nach Aussagen von Lektoren wird nur etwa 1%  der eingesandten Manuskripte gedruckt.
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