Page 153 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassiker: ›Herstellung‹ oder ›Herausbildung‹?  151

               anknüpfende Kommunikation selektiv zurückgreifen kann. Eine solche hohe
               Komplexität kann alle Sinndimensionen in Anspruch nehmen und eine Viel-
               zahl von funktional äquivalenten Formen annehmen. 19
                   Vor allem aber muss man in diesem Zusammenhang an jenes dunkle Ge-
               murmel  erinnern,  das  vielen  philosophischen Texten  eigen  ist  und  das  viel
               Raum für Vermutungen und Interpretationen lässt. Der dunkle, unverstandene
               Sinn scheint sich besonders gut für die Fortsetzung von Kommunikation zu
               eignen – neigen wir doch dazu, hinter dem Nichtverstandenen einen tiefen
               Sinn zu vermuten. Alles Große, so unterstellen wir, hat ein Geheimnis, und
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               man könnte deshalb – um eine Formulierung Johann Wolfgang von Goethes
               aufzugreifen – raten: Willst Du etwas wichtig machen, dann mache ein Ge-
               heimnis daraus.
                   Reicht diese Erklärung durch natürliche Selektion aus, um das Phänomen
               des Klassikers zu erklären? Ich denke nicht, und das deshalb, weil sie wohl die
               Rezeptionsbedürfnisse der Rezipienten einleuchtend zu erklären vermag, nicht
               aber die Entstehung des Werkes. Klassiker wird man aber nur durch die Produk-
               tion eines Werkes, eines opus. Das Werk ist eine notwendige, wenngleich auch
               keine hinreichende Bedingung für die Entstehung der Klassiker. Wie kann man
               die ungeheure Produktivität von klassisch gewordenen Autoren erklären?
                   Eine Erklärung durch einen unmittelbaren Nutzen im Kontext der natürli-
               chen Selektion ist hier nicht plausibel. Wenn man sich die Mühe und die Arbeit
               vor Augen führt, der die Produktion der meist umfangreichen Werke bedurf-
               te, und die damit verbundene Verschwendung von Lebenszeit, wird man nicht
               umhinkommen, von einem unmittelbaren Nutzen als Erklärung abzukommen.



               19  Ich erinnere an folgende Beispiele: 1.) Platons Höhlengleichnis aus seiner Politeia, das in sei-
                   ner vielschichtigen Metaphorik einen hohen Anreiz für vielfältige Interpretationen bietet;
                   2.) die komplexe Polyphonie der Bachschen Musik, die in ihrer unergründlich scheinen-
                   den Struktur von gegenseitigen Verweisungen und Überformungen, Differenzierung und
                   Einheitsempfindungen gleichzeitig steigert; 3.) die verschlungene Polykontextualität von
                   Bildungsverläufen, z. B. in Goethes Wilhelm-Meister-Romanen, durch die differenzierte
                   Lebensmuster deutbar werden, auf die man affirmativ oder kritisch Bezug nehmen kann.
               20  Es handelt sich um die Worte des Aufsehers in der Pädagogischen Provinz aus Wil-
                   helm Meisters Wanderjahre (2. Buch, 1. Kapitel): »Außerdem hat das Geheimnis sehr
                   große Vorteile: denn wenn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf alles
                   ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter. Gewissen Geheimnissen, und wenn sie
                   offenbar wären, muß man durch Verhüllen und Schweigen Achtung erweisen, denn
                   dieses wirkt auf Scham und gute Sitten.« (Goethes Werke [wie Anm. 14], Bd. 8 [1989],
                   150f.).
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